Full text: Archiv für öffentliches Recht.Siebenter Band. (7)

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mus; der Hume’sche Empirismus sei zu ergänzen durch die von Kant ange- 
nommene, &a priori bestehende Verstandeskategorie der Kausalität. Von 
diesem richtigen Standpunkte aus gelangt Tönnıes aber zu unhaltbaren 
Schlüssen, indem er, gestützt auf die Thatsache, dass es geistige Kräfte und 
Tendenzen giebt, welche der Erfahrung vorausgehen, annimmt, die Be- 
obachtungswelt könne unter bestimmte, auch zum Voraus gegebene Ideen 
und Prinzipien rubrizirt werden. So ist der Standpunkt des Verfassers ein 
rein rationalistischer und idealistischer; er macht sich bestimmte Begriffe 
und sucht dann die Wirklichkeit darunter zu ordnen, wobei er die letztere 
rein idealistisch auffasst. Die Begriffe sind: Gemeinschaft — Gesellschaft; 
Wesenwillen — Willkür. Mit diesen Kategorien will Tönnıes die Grund- 
probleme des socialen Lebens erfassen und darin zugleich die Faktoren der 
sogenannten Kulturentwicklung gefunden haben. Das Empirische glaubt er 
damit zu bieten, dass er die verschiedenartigsten Erscheinungen in der 
menschlichen Gesellschaft unter seine aufgestellten Schablonen stellt. Dass 
dabei Willkürlichkeiten und schiefe Auffassungen unterlaufen müssen, ist 
klar. Tönnıss fasst in seiner Uebersicht der Ergebnisse die Begriffe und die 
Arten des menschlichen Nebeneinanderlebens folgendermassen zusammen: 
A. Gemeinschaft. 1. Familienleben = Eintracht. Hierin ist der Mensch mit 
seiner ganzen Gesinnung. Ihr eigentliches Subjekt ist das Volk. 2) Dorf- 
leben — Sitte. Hierin ist der Mensch mit seinem ganzen Gemüthe. Ihr eigent- 
liches Subjekt ist das Gemeinwesen. 3) Städtisches Leben = Religion. Hierin 
ist der Mensch mit seinem ganzen (Gewissen. Ihr eigentliches Subjekt ist 
die Kirche. B. Gesellschaft. 1) Grossstädtisches Leben —= Convention. Diese 
setzt der Mensch mit seiner ganzen Bestrebung. Ihr eigentliches Subjekt 
ist die Gesellschaft schlechthin. 2) Nationales Leben = Politik. Diese setzt 
der Mensch mit seiner ganzen Berechnung. Ihr eigentliches Subjekt ist der 
Staat. 3) Kosmopolitisches Leben = Oeffentliche Meinung. Diese setzt der 
Mensch mit seiner gesammten Bewusstheit. Ihr eigentliches Subjekt ist die 
Gelehrten-Republik etc. Tönsıes rechnet mit seinen Kategorien wie der 
Mathematiker mit Zahlen, ohne zu bedenken, dass dem letzteren sein Ergeb- 
niss nur stimmt, weil seine Faktoren und Grössen fest begrenzte und ge- 
gebene sind. Mit verschwommenen Begriffen aber, wie Eintracht, Gesinnung, 
Sitte, Gemüth, Gewissen, Berechnung, Bewusstheit u. s. w., lässt es sich 
nicht systematisiren. Ist es wirklich richtig, dass das Familienleben die 
Eintracht, das Dorfleben die Sitte, das städtische Leben die Religion 
repräsentirt; lassen sich auf so schwankenden Grenzen wie diejenigen 
zwischen städtischem und grossstädtischem Leben derartige Gegensätze auf- 
bauen wie Religion und Convention ? 
Am Schlusse seines Werkes giebt uns Tönnızes noch ‚„Proömien des 
Naturrechts.“ Mit seinen beiden Doppelkategorien sucht er auch das ge- 
sammte Rechtsleben zu umfassen und zu erklären. Wir erfahren dabei z. B.,
	        
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