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ordneten völkerrechtlichen Processverfahrens, welches als wahre
Ursache für die Fortdauer der augenblicklich noch im vollen
Schwunge befindlichen internationalen Anarchie erscheint; der
Grund hierfür liegt vielmehr in der, gleichviel ob völlig geklärten
oder nur instinctiven Ueberzeugung, dass es nicht möglich sei,
das materielle Völkerrecht in genügender Weise auszugestalten;
denn, wenn man sich auch seit Jahrhunderten und besonders seit
Husco Grorıvs mit der Herausarbeitung eines materiellen Völker-
rechtes befasst, so hat man sich dabei doch zum weitaus grössten
Theile nur mit ganz nebensächlichen oder mit Dingen beschäftigt,
welche, genauer betrachtet, das gerade Gegentheil eines eigentlichen
Staatengesellschaftsrechtes bilden, dagegen sich vor dem wesentlich
springenden Punkte der gesammten Materie mit einer Scheu her-
umgedrückt, welche lediglich der Ausdruck des bösen Gewissens
ist. Dieser springende Punkt aber ist die unbedingte Anerkennung
des „Stabilitätsprincips“, denn in der That ist gar kein Staaten-
gesellschaftsrecht denkbar, wenn nicht übereinstimmend von allen
einzelnen Staaten, welche ein solches unter einander wollen gelten
lassen, der status quo der jeweiligen Länderconfiguration als un-
abänderlich hingestellt wird®?). Mit der genauen Fixirung seines
Landgebietes nämlich wird jeder Staat überhaupt erst etwas
Concretes, Fassbares; er erhält durch sein Landgebiet seine eigent-
liche physische Existenz; und, wie kein bürgerliches Recht denk-
bar ist ohne die bestimmte Formulirung des Satzes, dass die
physische Existenz der einzelnen Rechtssubjecte unverletzlich ist,
so ist auch ein Völkerrecht, im wahren Sinne des Wortes, nur
denkbar, wenn dasselbe das Landgebiet der Staaten für unver-
letzlich erklärt. Gerade diese so überaus einfache Wahrheit aber
ist es, welche die Meisten kopfscheu macht, wenn es sich um die
Frage handelt, ob es jemals möglich sein werde, ein Staatensystem
in’s Leben zu rufen.
2) Vgl. Schuier, a. &. O. zehnter Abschnitt: Stabilität S. 333—344.