Full text: Archiv für öffentliches Recht.Achter Band. (8)

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eines Staates; ohne die jeweilig in einem concreten Staate gel- 
tende positive Verfassung, ist daher das Volk ein politisches 
Chaos; das Vernunftrecht aber wollte das nicht gelten lassen: 
man lehrte vielmehr, dass jedes Volk sich seine Verfassung selbst 
gegeben habe und darum auch jederzeit im Stande sei, dieselbe 
aufzuheben und zu ändern; man glaubte also, dass jederzeit die 
jeweilige Organisation des Volkes über den Haufen geworfen 
werden könne — durch wen?.... durch das Volk im Sinne der 
Bevölkerung. Das war die Theorie, aber diese ging und geht 
ganz von selbst in die Brüche. ... Das Recht der Bevölker- 
ung nämlich, sollte durch die sogenannten ‚Plebiscite‘‘®) zum 
Ausdrucke gelangen, aber in diesen „Plebisciten‘“ zeigte sich ja 
doch auch sofort wieder eine „Organisation“, deren eben keine 
Mehrheit von Menschen entbehren kann, wenn sie überhaupt in 
politische Action treten soll. Man liess die männlichen Indivi- 
duen eines Staates, bis zu einer bestimmten Altersgrenze, ab- 
stimmen und das, was die einfache Majorität derselben votirte 
— war „das Recht.‘ — Das ist das ganze Geheimniss der ver- 
nunftrechtlichen Schule: fürwahr ein sehr trauriges und dürfti- 
ges. In Wahrheit kommt die ganze Sache darauf hinaus, dass 
über jeder concreten Staatsverfassung nicht — wie man fälsch- 
lich behauptete — das „Volk“ steht, d. h. derjenige Factor, über 
welchen der nach der concreten Verfassung berufene Träger 
der Regierung herrscht, sondern eine andere, auf breiterer Grund- 
lage ruhende, vernunftrechtliche Verfassung, auf Grund derer 
die concrete Verfassung beseitigt werden kann und muss, so- 
bald diese aufhört in dem Sinne zu functioniren, welcher durch 
die naturrechtliche Verfassung zur Bethätigung gelangen würde, 
wenn diese in Geltung wäre. ... 
Was aber heisst das überhaupt eine „vernunftrechtliche Ver- 
6) Vgl. STOERK, Option und Plebiscit bei Eroberungen und Gebiets- 
cessionen (Leipzig 1879) und die treffliche, daselbst gegebene Zusammenstell- 
ung der einschlägigen Quellen.
	        
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