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eines Staates; ohne die jeweilig in einem concreten Staate gel-
tende positive Verfassung, ist daher das Volk ein politisches
Chaos; das Vernunftrecht aber wollte das nicht gelten lassen:
man lehrte vielmehr, dass jedes Volk sich seine Verfassung selbst
gegeben habe und darum auch jederzeit im Stande sei, dieselbe
aufzuheben und zu ändern; man glaubte also, dass jederzeit die
jeweilige Organisation des Volkes über den Haufen geworfen
werden könne — durch wen?.... durch das Volk im Sinne der
Bevölkerung. Das war die Theorie, aber diese ging und geht
ganz von selbst in die Brüche. ... Das Recht der Bevölker-
ung nämlich, sollte durch die sogenannten ‚Plebiscite‘‘®) zum
Ausdrucke gelangen, aber in diesen „Plebisciten‘“ zeigte sich ja
doch auch sofort wieder eine „Organisation“, deren eben keine
Mehrheit von Menschen entbehren kann, wenn sie überhaupt in
politische Action treten soll. Man liess die männlichen Indivi-
duen eines Staates, bis zu einer bestimmten Altersgrenze, ab-
stimmen und das, was die einfache Majorität derselben votirte
— war „das Recht.‘ — Das ist das ganze Geheimniss der ver-
nunftrechtlichen Schule: fürwahr ein sehr trauriges und dürfti-
ges. In Wahrheit kommt die ganze Sache darauf hinaus, dass
über jeder concreten Staatsverfassung nicht — wie man fälsch-
lich behauptete — das „Volk“ steht, d. h. derjenige Factor, über
welchen der nach der concreten Verfassung berufene Träger
der Regierung herrscht, sondern eine andere, auf breiterer Grund-
lage ruhende, vernunftrechtliche Verfassung, auf Grund derer
die concrete Verfassung beseitigt werden kann und muss, so-
bald diese aufhört in dem Sinne zu functioniren, welcher durch
die naturrechtliche Verfassung zur Bethätigung gelangen würde,
wenn diese in Geltung wäre. ...
Was aber heisst das überhaupt eine „vernunftrechtliche Ver-
6) Vgl. STOERK, Option und Plebiscit bei Eroberungen und Gebiets-
cessionen (Leipzig 1879) und die treffliche, daselbst gegebene Zusammenstell-
ung der einschlägigen Quellen.