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um eine Dereliction, denn die Lostrennung eines Gebietes wird
in einem solchen Falle nicht von der Bevölkerung des betreffenden
Gebietes, sondern ausnahmslos von dem Staate, als solchen, in
Scene gesetzt. Dieser gibt thatsächlich den Anstoss dazu, gleich-
viel aus welchen Beweggründen, welche natürlich für die theo-
retische Construction des Ganzen vollkommen gleichgiltig sind;
er bestimmt den Umfang des Gebietes, dessen er sich entäussern
will, und kümmert sich nicht im Mindesten darum, ob etwa auch
die Bevölkerung eines weiteren Gebietes denselben Wunsch hat,
wie gerade die Bevölkerung desjenigen, dessen Umfang einfach
durch eine internationale Abmachung mit dem erwerbenden
Staate bestimmt wird. ... Das kann nicht nur so sein, das
muss vernünftigerweise so sein; und das ganze Plebiscit ist dar-
um, thatsächlich, nur eine Manifestation, welche man aufführt,
um bei den politischen Philistern keinen Zweifel aufkommen zu
lassen, dass es sich dabei ausschliesslich um einen Ausfluss des
„Selbstbestimmungsrechtes“ handelt, welches den Völkern unter
keinen Umständen geschmälert werden dürfe.
Stünde wirklich und im eigentlichsten Sinne dieses Selbst-
bestimmungsrecht in Frage, dann müsste auch der „Bevöl-
kerung“ die Möglichkeit gegeben werden, zu entscheiden nicht
nur über die Alternative, welche ihr bei einem Annexionsplebis-
cit gestellt wird, ob sie in dem bisherigen Staatsverbande ver-
bleiben oder einem ganz bestimmten andern sich angliedern will,
sondern zum Mindesten auch darüber, ob sie es nicht vorzieht,
sich zu einem selbstständigen Staate aufzuthun, wenn ihr nicht
— wie es weiter ganz folgerichtig wäre — die Gelegenheit gebo-
ten werden soll, {auch den Uebertritt zu irgend einem anderen
Staate zu beschliessen, welcher der Majorität vielleicht besser
gefällt, als derjenige, für welchen sie allein zu votiren be-
fügt ist.
Das allerwichtigste Bedenken aber gegen die Plebiscittheorie
ist das, dass sie in sich selber gerade am heftigsten gegen