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keit des Kindes, nicht ein ein- oder mehrmaliges bewusstes Zu-
widerhandeln gegen Gebote oder Verbote der Eltern oder Lehrer,
wohl aber Widerspenstigkeit ein Kennzeichen sittlicher Ver-
wahrlosung. Die Feststellung der letzteren erfordert daher eine
gewisse Vertrautheit des Richters mit dem Vorleben und dem
innersten Wesen des Kindes.
Kehren wir nunmehr zu den Merkmalen zurück, deren Be-
achtung das Gesetz bei der Beurtheilung der Gefahr des weiteren
Fortschreitens der V.erwahrlosung vorschreibt, so ıst zunächst
die Beschaffenheit der strafbaren Handlung von Belang.
Es genügt also nicht die Feststellung einerseits der sittlichen
Verwahrlosung des Kindes, andererseits einer beliebigen straf-
baren Handlung desselben, sondern letztere selbst muss eine
einzelne Manifestation der Verwahrlosung bilden. Der Sinn des
(sesetzes ist aber meines Erachtens nicht der, dass gewisse De-
lictsarten an sich auf sittliche Verwahrlosung schliessen lassen,
andere nicht, sondern die einzelne That mit allen ihren äusseren
und inneren Momenten, den Motiven, aus denen sie entsprang,
dden Zwecken, die sie verfolgte, u. s. w. ıst es, deren Beschaffen-
heit für die Beurtheilung der Verwahrlosung massgebend sein
soll. Nicht der Betrug oder Diebstahl als solcher, wohl aber ein
mit besonderer Raffinirtheit verübter Betrug oder Diebstahl ist
Kennzeichen sittlicher Verwahrlosung, Wenn nach dem Justiz-
ministerialrescript vom 17. April 18851!) die blosse Feststellung,
dass die betreffenden Kinder gebettelt und ihre verarmten
Eltern sich ausser Stande gesehen hatten, sie zu ernähren, zur
Anordnung der Zwangserziehung nicht ausreichen soll, während
umgekehrt Tuümmer !?), der dieses Rescript übersehen zu haben
scheint, in dem Betteln „fast immer ein schwerwiegendes Symp-
tom für eine schädliche Erziehung, für schlechte häusliche An-
11) Mitgetheilt durch Erlass des Min. des Innern vom 8. Juli 1885 (Min.-
Bl. f. d. innere Verw. S. 187).
12) a.a. 0. S. 49.