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nämlich Ausfertigung und Verkündigung der Bundesgesetze, über.
Die Vetorechte, welche gar keine wirklichen Präsidialbefugnisse
waren, blieben Sonderrechte des Königs von Preussen im Bundes-
rathe. Sie kommen also hier, wo wir von der Rechtsstellung
des Königs von Preussen als solchen im Reiche absehen, nicht
weiter in Betracht. Die Reichsverfassung beschränkt sich nun-
mehr nach der Festsetzung in Art. 5, dass die Reichsgesetzgebung
durch Bundesrath und Reichstag ausgeübt wird, in Bezug auf
die Theilnahme des Kaisers an der Gesetzgebung auf die dürftige
Bestimmung des Art. 17, wonach dem Kaiser die Ausfertigung
und Verkündigung der Reichsgesetze im Namen des Reiches
und unter Gegenzeichnung des verantwortlichen Reichskanzlers
zusteht.
Nicht diese Verfassungsbestimmungen allein bilden jedoch
die Quellen des geltenden Rechtes. Aus der politischen Praxis
von mehr als zwei Jahrzehnten hat sich in einzelnen Beziehungen
ein anerkanntes Gewohnheitsrecht entwickelt, welches die Reichs-
verfassung in einem ihrer ursprünglichen Structur entgegen-
gesetzten Sinne ergänzt und fortgebildet hat, so dass man bei-
nahe von einem dem geschriebenen Verfassungsrechte derogiren-
den Reichsherkommen sprechen kann.
Eine gesetzgeberische Initiative konnte die Bundesverfassung
nach ihrer ursprünglichen Anlage nur den einzelnen Bundes-
gliedern im Bundesrathe und dem Reichstage einräumen, da sie
ausser diesen beiden Factoren der Gesetzgebung überhaupt keine
verfassungsmässigen Bundesorgane kannte. Trotzdem der letztere
Grund fortgefallen ist, sind die Bestimmungen in die Reichsver-
fassung Art. 7, 23 unverändert übergegangen. Abgesehen von
den hier nicht weiter interessirenden Initiativanträgen des Reichs-
tages, die verhältnissmässig selten vorkommen, würde also nach
dem geschriebenen Verfassungsrechte nicht der Kaiser, sondern
gleich allen übrigen Bundesgliedern der König von Preussen und