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anderen Organes nicht auf. Weder der Kaiser, dessen über-
ragende Stellung mehr auf politischem als auf staatsrechtlichem
Gebiete liegt, noch der Bundesrath, der wohl politisch, nicht
aber staatsrechtlich dem Collectivsouverän näher steht als dessen
andere verfassungsmässige Organe, hat eine solche allgemeine
Vermuthung für sich. Nur für einzelne Materien, so z. B. beim
Erlass von Ausführungsverordnungen zu Gunsten des Bundes-
rathes, bei Beamtenernennungen zu Gunsten des Kaisers, bestehen
derartige Rechtsvermuthungen.
Es lässt sich nicht verkennen, dass die von der Reichsver-
fassung beliebte Form der Abgrenzung der Regierungsrechte von
Bundesrath und Kaiser, wie durchschlagend auch das dafür mass-
gebende politische Motiv sein mochte, der Rechtsstellung keines
von beiden zu Gunsten des anderen zu präjudiciren, in der
Praxis namentlich gegenüber neu auftauchenden Aufgaben des
Reiches zu Schwierigkeiten führen kann. Es ist in dieser Be-
ziehung namentlich an die bei Begründung der deutschen Colo-
nien viel umstrittene Frage zu erinnern, wer der Vertreter der
souveränen Reichsstaatsgewalt‘ innerhalb der Schutzgebiete sei.
Lücken der Gesetzgebung, die sich in derartigen Fällen heraus-
stellen, sind aber immerhin noch nicht solche der Rechtsordnung.
Die Fragen müssen auf Grund analoger Bestimmungen des aner-
kannt geltenden Verfassungsrechtes entschieden werden. Politisch
vorzuziehen ist allerdings immer eine Lösung durch die Gesetz-
gebung, wie sie auch in dem oben erwähnten Falle erfolgt ist.
Das Reich ist nun aber nicht durchgängig auf einzelne, ihm
durch die Reichsverfassung zugesprochene Hoheitsrechte be-
schränkt. In den Gebieten, für welche das Supplement des Ein-
zelstaates fehlt, übt es die Fülle der Staatsgewalt. Hier musste
bei der rechtlich gar nicht formulirbaren Mannigfaltigkeit der
Staatsaufgaben für ein verfassungsmässiges Reichsorgan eine
Rechtsvermuthung der Zuständigkeit auf dem Gebiete der Regie-
rung aufgestellt werden. Dies ist in der That geschehen und zwar