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der über die behandelten Grundfragen mit sich im Reinen zu sein denkt, da-
durch sich abhalten lassen, den Verfasser auf seinen Wanderungen zu begleiten,
Scharfsinnige Detailausfübrungen und Kritiken und neue Gesichtspunkte für
alte Probleme lohnen die Mühe.
Referent hat besonderen Grund, das Werk sympathisch zu begrüssen.
Es nimmt die Arbeit mit umfassenderen Materialien auf, die er vor Zeiten
(in der Einleitungs-Abhandlung der GrünHur'schen Zeitschrift) in Angriff ge-
nommen hat: den Kampf gegen den prinzipiellen Dualismus in der das Recht
betreffenden Gedankenwelt („positive und philosophische Rechtslehre) und
für eine positivistische Rechtsphilosophie, welche die juristischen Spezial-
wissenschaften als ein homogenes Glied ergänzt und nicht wie eine von aussen
angelegte Klammer, sondern wie die Rinde den Baum, aus dessen Säften sie
gebildet ist, umfasst. Und das Werk lässt trotz scharfer Beleuchtung der
Mängel unserer juristischen Grundlehren erkennen, dass eine respektable
Summe geistiger Kräfte sich in der Richtung des dort aufgestellten Pro-
gramms bethätigt.
Je grösser freilich die Uebereinstimmung in den allgemeinen Tendenzen
ist, um so leichter haftet der Blick an Einzelheiten, die unseren Anschauungen
nicht entsprechen, an Stellen, wo die Wege sich scheiden. Eine solche Einzel-
heit (der übrigens eine grössere Tragweite zukommt) ist für mich die gegen
IHErInG’s Kampftheorie gerichtete Behauptung des Verfassers S. 545, dass
bei Schaffung des Rechtes „das einfache Thun auf der einen, Dulden auf der
anderen Seite... wenn nicht ausnahmslose Regel (!), doch der gewöhnliche
Fall“ (sei). Welche von unseren deutschen Gesetzen sind wohl dieser Regel
gemäss zu Stande gekommen? Ferner die These, dass die Begriffe des objek-
tiven und des subjektiven Rechtes so disparater Natur seien, dass sie sich
unter keinen anderen Gattungsbegriff bringen liessen, als den des „rechts-
relevanten Dings (8. 48 f.). Eine genauere Untersuchung des beiden Be-
griffen wesentlichen Machtmomentes und seiner eigenthümlichen Beziehungen
würde erkennen lassen, dass im Gegentheile ein nahes Verwandtschaftsver-
hältniss zwischen ihnen besteht und dass es sich bei der gleichen Benennung
derselben im Deutschen — was übrigens auch eine etymologische Unter-
suchung erhärten würde — nicht um eine blosse, unlogische Laune unserer
Sprache handelt.
BERGBOHM’s Bemerkungen über das Rechtsgefühl (454 fl., 465 ff.)
enthalten neue Gesichtspunkte, doch dürften seine Zergliederung und Ableit-
ung dieses complieirten ethischen Phänomens die Sache nicht in dem voraus-
gesetzten Maasse erledigen. \
Grosses Gewicht legt BERGBOHM auf die seiner Ansicht nach begrifflich
nothwendige Lückenlosigkeit jedes Rechtes, bezw. die absolute Un-
zulässigkeit einer Ergänzung seines Inhaltes aus nicht positiven Quellen. Und
seine Ausführungen darüber sind sehr beachtenswerth. Gleichwohl scheint
mir, dass er nicht zu einer Formulirung seiner 'These gelangt, welche jeden
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Archiv für öffentliches Recht. VII. 4.