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haltes, zu verschiedenen Konsequenzen in Bezug auf Erkenntnisstheorie, Me-
thodik und Logik der Jurisprudenz gelangen, zu anderen z. B,, wenn man
der teleologischen Auffassung ImerinG’s huldigt, zu anderen, wenn man an
den Voraussetzungen des modernen Naturrechts bezüglich des Reclıtsinhalts
festhält. Der Gegensatz zwischen formalistischer und realistischer Behand-
lung der juristischen Probleme, der in der neueren Litteratur so vielfach zum
Ausdruck gekommen ist, entspricht, wie ich anderweit ausgeführt habe (Vor-
trag über IHERING), einer derartigen Verschiedenheit in der Auffassung des
Rechtsinhalts. Die formelle Rechtsphilosophie bedarf daher der materiellen
als des sie tragenden Unterbaues. Man müsste sich denn auf eine blosse
Beschreibung des Prozesses der Positivirung des Rechts beschränken. Handelt
es sich dagegen darum, zu erfahren, was denn dieses positive Recht „seinem
innersten Wesen und letzten Grunde nach ist“ (S. 103), so erweist sich die
Sonderung jener beiden Disciplinen als undurchführbar. Die Erklärungs-
gründe für die besonderen Bildungs- und Wirkungsformen des Rechts liegen
ja selbstverständlich auf dem materiellen Gebiete.
Deshalb wird auch der Kampf gegen das Naturrecht und die idealistische
Rechtsphilosophie seinen endgültigen Austrag im Bereiche der materiellen
Rechtsphilosophie zu finden haben. Daraus aber ergiebt sich, dass es sich
dabei nicht lediglich um „ein wissenschaftliches Internum der Juristen“ (S. 359)
handelt. Denn die Probleme dieses Gebietes sind der Jurisprudenz zum
Theile mit anderen Wissenschaften, speziell mit der Ethik gemeinsam. So
lang nun diese daran festhält, für das menschliche Gemeinleben an sich
gültige Prinzipien aufzustellen, die einer geschichtlichen Positivirung nicht
bedürfen sollen, um eine verbindliche Richtschnur für das praktische Ver-
halten in dieser Sphäre darzustellen, wird sich der allgemeinen Rechtslehre
positivistischen Charakters immer wieder eine solche von idealistischem Cha-
rakter gegenüberstellen und einen Einfluss auch auf die Lebre von den Rechts-
quellen, der juristischen Methode etc. anstreben.
Alles dies berührt indessen den Hauptinhalt des vorliegenden Werkes
nicht, zielt im Grunde darüber hinaus auf rechtsphilosophische Anschauungen,
die zwar in jenem beiläufig hervortreten, aber eingehender Entwickelung und
Begründung harren. Auch mindert es nicht das Interesse an dem Erscheinen
der Fortsetzung des Werkes. Referent zweifelt nicht, dass die uns zunächst
in Aussicht gestellten Abhandlungen über die juristische Methode und das
Zwangsmoment im Rechte eine wesentliche Förderung der allgemeinen Rechts-
lehre begründen werden und wünscht auf das Lebhafteste, dass der Verfasser
denselben eine Revision der Lehre von den Rechtsquellen folgen lassen möge.
Strassburg i. E. A. Merkel.
Bar von, Ludwig, Professor an der Universität Göttingen, Mitglied des
Instituts für internat. Recht, Lehrbuch des internationalen