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Eine mildere Meinung vertrat — allerdings vereinzelt —
VöLk in seinem Kommentar zum leichsgesetze vom 6. Februar
1875, 3. Aufl. 1876, S. 127 ff. Er erklärte die Ehe für un-
siltig, d. h. rechtlich nicht existent, aber nur gegenüber der ohne
ihre Schuld an der Geltendmachung ihres Einspruchsrechtes ge-
hinderten Gemeinde und nur auf deren Klage.
Einen Umschwung der allgemeinen Anschauung bahnte ein
lürkenntniss des Reichsgerichts, I. Strafsenats, vom 12. April
1886 (Reser, Entscheidungen ete. Bd. VIII S. 52) an !P). Das-
selbe entschied in Uebereinstimmung mit dem Untergericht, dem
Landgericht München I, dahin, dass das bayerische Recht eine
ohne das vorgeschriebene Zeugnis, aber in der gehörigen Form
abgeschlossene Ehe keineswegs als nicht existent "betrachte,
sondern nur die privat- und öffentlichrechtlichen Wirkungen des
Eheabschlusses bis zur Beibringung des Verehelichungs-Zeug-
isses suspendiere.
Es zog daraus die Folge, dass solche Ehen, wenn sie auch
nicht als rechtsgiltig anerkannt seien, doch nicht ohne aus-
drückliche Entscheidung gelöst werden könnten, demnach die ın
einer solchen Ehe Lebenden den thatsächlichen Zustand während
der Dauer seines Bestehens zu achten hätten, und urteilte dem-
gemäss m dem vorgelegten Falle dahin, dass in Bezug auf eine
von einem rechtsrheinischen Bayern ohne Verehelichungszeugnis
abgeschlossene Ehe der Thatbestand des Ehebruchs nach Mass-
gabe des $ 172 des R.-Str.-G.-B. möglich seı.
Entscheidend war für das Reichsgericht ein dreifaches. Ein-
mal der Umstand, dass Art. 33 die Ehe nur für so lange bürger-
lich ungiltig erkläre, als die Ausstellung des Zeugnisses nicht
nachträglich erwirkt sei. Es sei hier eine nachträgliche Ver-
leihung der bürgerlichen Giltigkeit ohne Wiederholung des eigent-
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1) Vergl. zum Nachfolgenden das Referat in Bd. XIII (1892) der
Sammlung von Entscheidungen des bayer. Verwaltungsgerichtshofes S. 410.