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der Sache liegenden hin, ohne dies zu begründen und zu beweisen. Seine
Unterscheidung zwischen der souveränen, zum Erlass einer Constitution be-
fugten Gewalt und den Trägern der gesetzgebenden, vollziehenden und richter-
lichen Gewalt als den von der Staatsgewalt erst geschaffenen Organen wird
auf das Axiom gestützt: „La constitution ne peut &maner que d’un pouvoir
constituant, superieur au pouvoirs constitues“.
Nun ist es wohl richtig, dass die constituirende Gewalt im Verhältniss
zu den von ihr geschaffenen und mit gewissen Befugnissen ausgestatteten
Organen, das logisch Frühere ist; aber es ist nicht logisch nothwendig, dass
sie sich ein Gebiet staatlicher Willensäusserungen reservirt, welches auch in
Zukunft auf andere Art als durch die verfassungsmässigen Organe geregelt
wird. Ebensowenig ist es berechtigt, zwischen dem Willen des Staates selbst
und dem seiner Organe einen Unterschied zu machen. Der in verfassungs-
mässiger Form erklärte Wille der constituirten Organe gilt eben kraft
verfassungsmässigen Rechtssatzes als Staatswille und das Verfassungsrecht
schafft für die verschiedenen Arten staatlicher Willensacte bestimmte, rechtlich
normirte Wege mit Ausschluss anderer nicht geregelter Formen der Willens-
bethätigung. Zu diesen geregelten Formen kann allerdings auch das Ple-
biscit oder eine andere Art der allgemeinen Volksabstimmung gehören; aber
es ist nicht zu begreifen, warum gerade diese Form für gewisse Anordnungen
unerlässlich sein soll. Das Beispiel der beiden grossen Staaten ohne geschrie-
bene Verfassungen, England und Ungarn, das Beispiel der Schweiz vor Ein-
führung des Referendums und Frankreichs selbst und das Beispiel der deutschen
Staatengruppe beweisen doch zur Genüge, dass Freiheit, Recht und Ord-
nung und ein fester und anerkannter Verfassungszustand auch ohne Plebiseit
oder ähnliche Institutionen bestehen können. Dagegen stützte sich der
bonapartische Cäsarismus gerade auf das Plebiscit.e. Und glaubt der Verf.
etwa, dass, wenn heut in Russland eine Verfassung der allgemeinen Volks-
abstimmung unterbreitet und eingeführt werden würde, sie einen wirksamen
Schutz gegen absolutistische Willkür und despotische Grausamkeit bieten
würde?
Vor Allem aber hätte der Verf. an der Hand der positiven Gesetz-
gebung die Grenze zwischen dem Gebiete der constituirenden und der gesetz-
gebenden Gewalt darlegen müssen. Die Ausführungen des Verfassers gehen
dahin, dass alle in eine Verfassungsurkunde aufgenommenen Bestimmungen
und alle ausdrücklich als constitutionelle oder organische erklärte Gesetze,
Verfassungszusätze u. s. w. die von ihm verlangte höhere Weihe und Kraft
haben; er knüpft dieselbe also an ein äusseres, formelles Kriterium. Gleich-
zeitig leitet er aber die spezifische Verschiedenheit der constituirenden und
der gewöhnlichen Gesetzgebung daraus her, dass die erstere das Fundament
bilde, auf welchem erst die „gesetzgebende Gewalt“ — sowie die beiden
anderen „Gewalten“ — errichtet, organisirt und mit bestimmten Aufgaben und
Zuständigkeiten ausgestattet werden; er begründet also den Vorrang der