— 274 —
Verfassungsgesetze als logische Folge ihres Inhaltes; er stützt sie auf ein
materielles Kriterium. Der Verf., der ein so gründlicher Kenner der euro-
päischen und amerikanischen Verfassungen ist, wird sich aber nicht verhehlen,
dass Beides durchaus nicht zusammen trifft. Der Inhalt einer Verfassung
bestimmt sich nicht nach den logischen Postulaten einer politischen Doctrin,
sondern nach den zur Zeit ihrer Entstehung vorhandenen praktischen Bedürf-
nissen und historischen Verhältnissen. Manche Verfassungen sind blosse
Landtagsstatute; bundesstaatliche Verfassungen haben in erster Linie die
Competenzvertheilung zwischen der Centralgewalt und den Einzelstaaten zum
Gegenstand; sog. Grundrechte betreffen Missbräuche und Uebelstände, denen
vorzubeugen ein praktischer Anlass zur Zeit der Abfassung des Grundgesetzes
bestanden hat. In die Verfassung des deutschen Reichs brauchte man ebenso
wenig wie in die französischen Verfassungsgesetze von 1875 Bestimmungen
aufzunehmen, dass die Glaubensfreiheit gewährt, die Censur beseitigt wird
u. dgl.; das waren historisch überwundene Dinge. Es gab eine Zeit, zu welcher
man es für ein praktisches Bedürfniss hielt, das „Grundrecht“ ausdrücklich
verfassungsmässig zu sanctioniren, dass hinsichtlich der Steuern Bevorzugungen
und Befreiungen unstatthaft sind. Dies hat aber keinen Staat gehindert, ohne
Verfassungsänderung die ärmeren Klassen von den directen Steuern zu be-
freien. Die Verfassungsurkunden enthalten oft höchst unwichtige Bestimmungen.
Wenn die Verfassung des deutschen Reichs bestimmt, dass die Zoll- und
Steuerbehörden vierteljährliche Rechnungsabschlüsse aufstellen und dem
Bundesrathsausschuss für das Rechnungswesen einsenden sollen u s. w.
(Art. 39), oder dass die Eisenbahnen bei eintretenden Nothständen billigere
Preise gewähren sollen (Art. 46), oder dass die Regimenter fortlaufende
Nummern durch das ganze deutsche Heer führen (Art. 63) oder dass die
Bundesfürsten rechtzeitige Mittheilungen von den die betreffenden Truppen-
theile berührenden Avancements und Ernennungen erhalten (Art. 66), so
haben diese und zahlreiche andere Verfassungssätze doch nicht im Entfern-
testen die politische Bedeutung, wie z. B. die Gesetze über die Gerichts-
verfassung u. das gerichtliche Verfahren, über die Arbeiterversicherung, über
die Wehrpflicht, über die Zölle und Verbrauchsabgaben u. s. w. Warum sollen
diejenigen Gesetze, welche dem Staat die für seine Existenz erforderlichen mili-
tärischen Kräfte und finanziellen Mittel sichern und die Bevölkerung mit den
entsprechenden Lasten beschweren, weniger constitutiv sein, als eine in die Ver-
fassungsurkunde aufgenommene Bestimmung über die Zahl der Deputirten und
die Prüfung ihrer Legitimation? Dass man die Abänderung von Verfassungs-
urkunden und anderen ihnen gleichgesteliten Gesetzen an gewisse erschwerende
Formen knüpft, ihnen eine gesteigerte formelle Gesetzeskraft beilegt, hat seine
guten Gründe; obgleich man auch in dieser Hinsicht oft über das praktisch
Nothwendige und Nützliche hinausgeht und dadurch nicht ein Bollwerk gegen
die Reaction — wie man in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts meinte —,
sondern eine Erschwerung zeitgemässer Reformen schafft. Dass aber die,