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sein muss (S. 120). Die Vorschrift, dass die Nothverordnung dem nächst-
berufenen Reichsrathe binnen vier Wochen vorzulegen sei, giebt dem Verf.
Anlass, eine Menge von Fragen aufzuwerfen, denen jede praktische Bedeutung
mangelt, z. B. ob die Frist ein tempus continuum oder utile sei, ob die
Originalurkunde der Verordnung vorgelegt werden müsse u. dgl. Die Frage,
in welchem Augenblick die Verordnung ihre Geltung verliert, falls der Reichstag
sie nicht genehmigt, macht dem Verf. Schwierigkeiten. Er bemerkt S 202,
dass in dem Moment, wo der Präsident den Beschluss des Hauses verkündet,
die Nothverordnung nicht in allen Theilen des Reiches plötzlich (!) ausser
Kraft treten könne, da man ja in den einzelnen Kronländern, ja in der
Reichshauptstadt selbst,. „soweit die Bevölkerung Wiens nicht im Parlaments-
gebäude anwesend ist“, von dem Beschluss noch keine Kenntniss habe.
Er meint daher, dass die Nothverordnung noch bis zum Beginn des nächst-
folgenden Tages in Geltung bleibe. Hiernach muss man wohl annehmen, dass
mit der auf den Beschluss folgenden Mitternacht die Bevölkerung der Kron-
länder von dem Beschluss Kenntniss erlange? Eine Folge der vom Verf.
aufgestellten Ansicht wäre andererseits die, dass Behörden, welche von dem
Beschluss Kenntniss haben, doch noch bis zum Ablauf des Tages die in der
Nothverordnung ihnen ertheilten Ermächtigungen, etwa Confiskationen, Ent-
ziehungen von Gewerbekonzessionen, Unterdrüchung von Zeitungen u, dgl.,
mit Rechtswirksamkeit ausüben dürfen. Geradezu naiv sind die Erörterungen
(S. 176ff.), wie „der Richter“ Kunde davon erlangen kann, dass die Noth-
verordnung nicht mehr zu Recht bestehe, und von der Pflicht des Ministeriums,
das Erlöschen ihrer Geltung bekannt zu machen. Hierbei wird auch der Fall
erwähnt, dass das Ministerium in Wirklichkeit die Verordnung rechtzeitig
vorgelegt habe, jedoch bekannt machte, dass es die Frist versäumt habe;
hier bemerkt der Verf. aber, dass „dies ein praktisch nicht gut denkbarer
Fall sei und nur der theoretischen Vollständigkeit halber gestreift wurde“
(S. 178). Auch 8.185 sieht er sich zu dem Geständniss veranlasst, dass die
von ihm vorher besprochenen Fälle, „Ausnahmsfälle sind, welche vielleicht
niemals, vielleicht selten praktisch werden“. Ueberflüssig ist wohl auch die
Widerlegung der Ansicht, dass die Beschlüsse der beiden Häuser abgesondert
in Gesetzblatt zu verkünden seien, was, wie er selbst sagt, „keinen Sinn
hätte“ (S. 207), sowie die Beruhigung des Lesers über das Phänomen, dass
die Verordnung am Tage ihrer Genehmigung zuerst provisorische und dann
definitive Geltung hat. Natürlich lässt sich der Verf. auch die Behandlung
des Falles nicht entgehen, dass eine Nothverordnung von der Regierung dem
Reichstage vorgelegt und von dem letzteren genehmigt wird, die gar keine
Nothverordnung ist, oder nicht formell ordnungsmässig verkündet ist oder
materiell verfassungswidrig ist u. 8. w.
Eine dem österreichischen Staatsrecht eigenthümliche Frage ist die,
ob das Institut der Nothverordnung mit provisorischer Gesetzeskraft auch
im Bereich der Landesgesetzgebung besteht. Eine ausdrückliche gesetzliche