Full text: Archiv für öffentliches Recht.Neunter Band. (9)

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bestand und Bürgerwohl erheben noch recht viel andere Ansprüche an das 
angestammte Staatshaupt —: ebenso wenig kann die Pädagogik, deren spe- 
cifische Aufgabe die einheitliche Gesammtbildung der Jugend ist, in den 
einseitigen Vorspanndienst der socialen Interessenfrage eingeschirrt werden. 
Dieser neue Kunstausdruck scheint selbst seinem Fabrikanten unhandlich zu 
sein. Wenigstens vermeidet er ihn ängstlich im Text seiner Schrift und 
spricht statt dessen von socialpolitischer Propädeutik, namentlich S. 312 
und 319, wo man specieller von seiner Pädagogik zu hören erwartet. Oder 
identificirt er den von einem anderen Autor schon 1882 eingeführten terminus 
etwa mit seinem eigenen Kunstausdruck? Wenn es aber gar auf dem Titel- 
blatte heisst: „Grundzüge etc.*, so lässt der Autor sein Geisteskind mit 
einem Prunkmäntelchen auftreten, welches von seinem Träger in gar keinem 
Stück gerechtfertigt wird. Mit diesem und jenem aphoristischen Streiflicht, 
das man hierhin oder dorthin wirft, erzielt man noch nicht ebenso viele 
Grundzüge. Die Wissenschaft hält es nicht so damit. Autor sagt am Schluss 
seiner Vorrede: „Die Wahrheit liegt in der Mitte, in diesem Falle also zwi- 
schen Socialismus und Individualismus“. Jawohl! Aber vor dem Forum 
der Wissenschaft liegt die Wahrheit nur in der Mitte als tertium interveniens 
inter duo contraria. Ein tertium, d. h. ein Neues, was weder Socialismus 
noch Individualismus ist, muss gesucht und gefunden werden. Der Autor 
macht sich die Sache leichter, und sagt hinsichtlich des zu findenden Schlüssels 
auf S, 268 einfach: „Ich denke mir die Sache so“. Und bei diesem Denken 
hat er das Missgeschick, eine divinatio post eventum zu leisten. Was er da 
über den „normalen Menschen“ denkt, hat ein anderer Autor bereits 1881 
zum speciellen Gegenstande einer Monographie gemacht und seitdem auch in 
anderen Schriften eingehend behandelt. Selbigen Autor kennt er überdies, 
denn er citirt gelegentlich einzelne Veröffentlichungen desselben, aber meist 
an unrechter Stelle und mit willkürlicher Kürzung des Autornamens oder 
mit Entstellung des Titels. Nicht weniger willkürlich springt er auch mit 
anderen Autoren um. Z.B. von CoMmTE behauptet er 8. 14: „Freilich weiss 
er sehr wohl, dass unsrer Einsicht diese Wissenschaft (Sociologie) stets versagt 
bleiben werde“. Und ComteE ist doch gerade der erste wissenschaftliche 
Verfechter einer entgegengesetzten Auffassung. Und 8.13 wird W. v. Hun- 
BOLDT jenen Leuten zugezähit,” die angeblich der Behauptung Bonauv’s nahe- 
stehn, „dass es nicht die Individuen sind, welche die Gesellschaft machen, 
sondern umgekehrt“. Und doch ist W. v. HumBoLp mit seinen „Grenzen der 
Wirksamkeit des Staats“ gerade energisch für die allgemeine Bedeutsamkeit 
der individuellen Selbständigkeit eingetreten, und hat diesen Standpunkt selbst 
noch im Alter vertreten (Briefwechsel mit einer Freundin). Doch genug! 
Grosse Dinge und völlig Correctes von jedem Autor erwarten, wäre unbillig. 
Wo Könige bauen, haben auch Kärrner zu thun. Doch unser Autor ver- 
gewaltigt sogar stellweise die liebe Muttersprache. Z. B. 8. 426 braucht 
er das Wort „sich annehmen“ offenbar nicht im sprachgebräuchlichen Sinne
	        
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