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D. Privatrecht. Erbrecht und Familiengüterrecht, in engstem
Zusammenhang und mit grosser gegenseitiger Uebereinstimmung, bilden den
Grundstock der diesbezüglichen Bestimmungen. Berühmt sind die sog. Enikli-
briefe, durch welche seit Mitte des 15. Jahrhunderts das Einstandsrecht der
Enkel an Stelle vorverstorbener Kinder in der grosselterlichen Erbschaft
anerkannt wird. Näherrecht der Blutsverwandten, oft in Verbindung mit
einem gesetzlichen Rücktrittsrecht des Verkäufers, findet bei Immobilien im
weitesten Umfang, aber auch bei gewissen Arten beweglicher Sachen (Pro-
dukten, namentlich Heu) statt. Von Verträgen werden fast nur Kauf,
namentlich um Vieh — mit eingehenden Bestimmungen über Hauptmängel
und Wandlungsklage —, verzinsliches Darlehen mit oft hoher Zinstaxe, selten
Pacht und Dienstmiethe behandelt; dass Vertragsbruch regelmässig mit Strafe
bedroht ist, versteht sich von selbst. Das Eheschliessungsrecht beruht auf altem
Verlobungsrecht; „die Lebensgemeinschaft ist unmittelbare Folge der Verlobung
und findet in dieser allein ihren rechtlichen Grund“; sie steht insofern in
keiner Berührung mit der kirchlichen Handlung '°): letztere gilt nur als Be-
stätigung der schon geschlossenen Ehe und ist als solche allerdings von der
Reformation hinweg bei Strafe geboten. „Die Verlobung ist ihrem recht-
lichen Inhalt nach vollgültige Eheschliessung“ !°).
Dass zahlreiche nachbarrechtliche Vorschriften, sowie Bestimmungen
über die Benützung der gemeinschaftlichen Alpen und der Privatgüter zu
Wunn und Weid sich finden, braucht kaum bemerkt zu werden; manche der
letzteren setzen eine Kenntniss der bezüglichen Ausdrücke und Verhältnisse
voraus, die nicht jedem Leser zugemuthet werden konnte und wo die eine
oder andere erläuternde Anmerkung willkommen gewesen wäre. Doch haben
die Herausgeber sich solcher enthalten, indem sie sich darauf beschränkten,
in den Einleitungen zu den einzelnen Abtheilungen des Werkes die Ent-
stehungszeit und -Art der Quellenstücke darzulegen.
Bern, April 1894. Dr. A. Zeerleder, Prof.
Post, Grundriss der Ethnologischen Jurisprudenz, I. Bd. Olden-
burg und Leipzig, Schulze’sche Hof-Buchhandlung 1894.
„Man muss nicht gerade alles für controvers halten, woran sich irgend
einmal Unwissenheit oder Geistlosigkeit versucht hat“, sagt F. C. v. Savıeny
in „Vom Beruf unsrer Zeit“ etc., 3. Aufl. 131. Von diesem Gesichtspunkte
aus könnte das wissenschaftlich gestählte Urtheil über mancherlei libella der
Neuzeit hinweg gehen, ohne durch eine Kritik die ohnehin schon überhäufte
Tagesordnung unsrer Gegenwart noch mehr zu belasten. Aber was für den
ausgereiften Standpunkt belanglos ist, steht nicht in demselben Verhältniss
16) v. Sauıs, Beitr. z. Gesch. d. prot. Eherechts in Graubünden, 1886.
S. 65.
16) v. Sarıs a. a. O.
Archiv für Öffentliches Recht. IX. 4. 40