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Fürsten als Beweggrund wirkte. Im allgemeinen fördert die Gesetzgebung
und Verwaltung den Vortheil der sich consolidirenden höheren Klasse, bald
— was der eigenen Tendenz des Staates am meisten entsprach — mehr zu
Gunsten des monied interest (um die englischen Ausdrücke hier anzuwenden),
bald, wo immer die ständische Ueberlieferung entschieden mitwirkte, dem
landed interest zu Liebe. Und gerade in Kursachsen, wo die industrielle Ent-
wicklung spontan ein lebhaftes Tempo hatte, wo zugleich als in rein prote-
stantischem Territorio die Kirche nicht mehr dem Rechte der Bauern zur
Seite stand, durften die Rittergutsbesitzer die Entartungen des Feudalismus
bis zu äussersten Grenzen treiben, wie hier in einem bedeutsamen Stücke
geschildert wird. Die Entwicklung der Städte selber, damals schon in jenem
Lande Arbeitskräfte anziehend, gab dazu Gründe oder doch Vorwände. Es
versteht sich, dass die Nachgiebigkeit der Regierung nicht immer gleich war.
Das Gesindeausschreiben des Herzogs Ernst 1466, das hauptsächlich die
Abwanderung während der Erntezeit ins Ausland hemmen sollte, bleibt noch,
wie im 16. Jahrhundert die Einführung des Abgangszeugnisses, im Rahmen
einer vernünftigen Politik. Erst die Gesindeordnung von 1651 führte Regu-
lirung und zwar Reduktion des Lohnes (um mehr als die Hälfte), den Zwangs-
dienst der „Unterthanenkinder“ und das Verbot nichtlandwirthschaftlicher
Thätigkeit für ländliche Taglöhner ein — nicht ohne lebhaften Widerstand
konnte sie durchgeführt werden. Die Einzelheiten des sich bervorwagenden
Klassenkampfes sind sehr merkwürdig. Nach dem Siege der Gutsbesitzer
wird im 18. Jahrhundert der Druck durch neue Mandate und Gesindeordnungen
verschärft — wenn auch die Humanität in Ermahnungen an die Herrschaften
ihren Tribut erhält. — Uebrigens würde erst innerhalb einer vergleichen-
den Darstellung dieser Entwicklungen in den deutschen Territorien die
kursächsische Gesindepolitik in ihren eigenthümlichen Merkmalen und Ur-
sachen erkennbar sein. F. Tönnies.
Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohl-
thätigkeit. Siebzehntes Heft. Stenographischer Bericht über die
Verhandlungen der dreizehuten Jahresversammlung des deutschen
Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit am 25. und 26. Mai 1893
in Görlitz, betreffend die Fürsorge für Obdachlose; Zwangsmassregeln
gegen arbeitsfähige Personen; Ausübung vormundschattlicher Funk-
tionen und die Fürsorge für entlassene Sträflinge, Leipzig, Duncker
und Humblot 1893.
Der umständliche Titel überhebt uns des Auszugs aus dem Inhalte
dieses Berichtes. Jedoch ist darauf nicht erwähnt die „Mittheilung über den
Gang der Arbeiten der Kommission zur Prüfung der Frage, in welcher
Weise die neuere sociale Gesetzgebung auf die Armengesetzgebung und
Armenpflege einwirkt“. Mit Recht bezeichnet der Referent, Freiherr von
REITZENSTEIN, diese Frage als ausserordentlich wichtig; Ergebnisse liegen