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Richtung, in welcher sich schon Wilhelm I. „der Fürsorge für
den wirthschaftlich schwächeren Theil des Volkes im Geiste
christlicher Sittenlehre angenommen“ habe. Aber mit diesen
Wendungen wird nur die christlich ethische Seite des ganzen
Problems, seine der christlichen Nächstenliebe entsprechende !'
Grundtendenz angedeutet, dagegen ebenso wenig eine Mitarbeit
der Kirche gefordert, wie eine Berücksichtigung kirchlicher
oder kirchenrechtlicher Gesichtspunkte nothwendig ge-
macht.
Dennoch lässt sich behaupten und nachweisen, dass Arbeiter-
versicherung und Kirchenrecht in mannigfachen Be-
ziehungen zu einander stehen. Diese Behauptung habe ich
bereits bei anderer Gelegenheit!’ aufgestellt; den Nachweis für
ihre Richtigkeit zu erbringen, ist die Aufgabe der vorliegenden
Untersuchung.
Meine Behauptung darf freilich nicht etwa dahin verstanden
werden, dass das Reichsversicherungsrecht auch nur irgendwie
kirchliches, kirchenrechtliches oder religiöses Gepräge trage —
— das wäre an sich schon unwahrscheinlich, weil, wie vorher
bemerkt wurde, die Kirche selbst sich für diesen Theil des
sozialpolitischen Programmes nicht besonders interessirt hat —,
Gewerbe vom 4. Febr. 1890 (Deutscher Reichsanzeiger vom 5. Febr. 1890,
Nr. 34); vgl. auch meinen Vortrag, „Die Entwickelung und die Grund-
lagen der Arbeiterversicherung im Deutschen Reiche“ in der Zeitschrift „Die
Invaliditäts- und Alters-Versicherung im Deutschen Reiche“ (herausg. von
Fey und Zeller), Jahrg. V, Nr. 3 (15. Dez. 1894),.8. 18 (Sonderabdruck, Mainz
1895, S. 20).
1° Der christlichen Nächstenliebe entspricht die Kardinalidee der ganzen
Arbeiterversicherung, dass durch 'die Beitragspflicht der Arbeiter und der
Arbeitgeber einer für alle und alle für einen gegen die materiellen Folgen
von Krankheit, Unfall, Erwerbsunfähigkeit und Alter einzutreten haben.
7 In meinen Lehrbuch $ 170 S. 727 Anm. 1, wo ich indessen
noch nicht auf. die weiter unten zu erörternde Bedeutung der „Feiertage“
und der „kirchlichen Urkunden“ für das Reichsversicherungsreebt hingewiesen
hatte.