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könne und solche Garantien und Schutzmittel fehlen auch im Völkerrecht
nicht; sie bestünden Alle in der Mitwirkung dritter Staaten. — Es folgt der
Abschnitt über die Endigung der Verträge, wobei spezielle Sorgfalt der
„Kündigung“ gewidmet wird. In diesem wie in manchem früheren Ab-
schnitte wird vielfach auf die seitens der europäischen Staaten mit Japan
geschlossenen Verträge gedeutet, die den Ausgangspunkt zu den tieferen
Untersuchungen des Verfassers über den völkerrechtlichen Vertrag gebildet
haben. Die europäische Politik im fernen Osten wird dabei mit heftigen
Worten angegriffen.
Dies der Haupttheil des vorliegenden höchst interessanten Werkes; in
den „Schlussbemerkungen“ (S. 248 bis Schluss) weist der Verf. auf die Be-
deutung des völkerrechtlichen Vertrages hin; dabei wird manche prinzipale
Rechtsfrage berührt. Ausgegangen wird in diesem Abschnitt von der natür-
lichen oder nothwendigen Ausgleichungstendenz in den nationalen Rechten;
aus denselben ergebe sich einerseits internationales, andererseits international
gleiches Recht. Das Völkerrecht ist nicht ausschliesslich öffentliches Recht,
es ist auch z. Th. Privatrecht. Das internationale Recht begreife eben
alles gemeinsame Recht der Völker. So sehr wir in manchen Einzel-
heiten dieses Abschnittes dem Verfasser beistimmen, so können wir ihm
doch in seinem u. E. übertriebenen Vertrauen auf die Ausgleichungstendenz
der nationalen Rechte nicht folgen: wir fürchten auch, dass bei der Sehilde-
rung dieses Ausgleichungsprozesses das bereits Erreichte nicht scharf genug
von dem nur Erreichbaren resp. dem Erstrebenswerthen geschieden wird.
Gleich dem Verfasser blicken wir aber jedenfalls mit Zuversicht auf die
Fortschritte des Völkerrechts und erhoffen Vieles von einer wachsenden
internationalen Vereinbarung, theilen auch vollkommen seine Wünsche nach
möglichst vollständiger Reinigung des Völkerrechts von Politik und Macht
auf dass dasselbe wie jedes andere Recht möglichst nur der Gerechtigkeit
diene. Dr. G. von Streit (Athen).
Alberto Morelli, La funzione legislativa. Bologna 1893. 8392 S.
Nach Moreıuı ist der Staat ein mit eigener Persönlichkeit und eigenem
Willen ausgestatteter gesellschaftlicher Organismus, eine Einheit höherer
Ordnung, den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der organischen Welt unter-
worfen. Er ist aber die Gesellschaft selbst und nicht ein von ihr verschie-
denes Wesen; Demnach ist das Gesetz nichts anderes als der Kollektivwille,
sei es in Form der Gewohnheit oder des geschriebenen Rechts. Aufgabe
der gesetzgebenden Funktion des Staates, wohl zu unterscheiden von den
gesetzgebenden Organen, ist es, mit dem wechselnden und sich entwickelnden
sozialen Bewusstsein im Staate im Einklang zu bleiben. Daraus ergiebt sich
von selbst die Antwort auf die Frage nach der Unabänderlichkeit der Gesetze
oder Verfassungen, sowie der Rückwirkung der Gesetze und der Berück-
sichtigung wohlerworbener Rechte. Entspricht die Revolution dem Kollcktiv-