Full text: Archiv für öffentliches Recht.Zehnter Band. (10)

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willen, so ist sie dem Rechte nicht entgegen; das einzige sichere Mittel, sie 
zu vermeiden, ist die rechtzeitige Reform der Gesetzgebung. Will die Ge- 
meinschaft, dass ein Gesetz mit rückwirkender Kraft bisher bestehende Rechte 
beseitigt, so muss der Gesetzgeber als Organ der Gemeinschaft dies aus- 
sprechen. Als Aeusserung des sozialen, d. h. des herrschenden Willens hat 
das Gesetz obligatorische Kraft; daher muss es einen klaren und deutlichen 
Befehl enthalten. Damit aber das Gesetz den Staatswillen darstellt, muss 
sein Inhalt vom Staat berathen und verkündet werden. Die Berathung 
schliesst den Gesetzesvorschlag, die eigentliche Gesetzesberathung und die 
Verleihung der verbindlichen Kraft in sich; die Promulgation besteht in der 
Redaktion und in der wirklichen Verbreitung und Kundgebung des Gesetzes- 
inhaltes. 
Der radikale, soziologisch angehauchte Standpunkt der Schrift entspricht 
wohl den gegenwärtig in Italien zur Herrschaft gelangten französisch-belgischen 
staatsrechtlichen Ideen. Daher ist es auch erklärlich, wenngleich den Werth 
der Arbeit wesentlich beeinträchtigend, dass in ihr alle diejenigen Gesetz- 
gebungen und Schriftsteller als minderwerthig und nebensächlich behandelt 
werden, welche in das Freiheitsprogramm des Verfassers nicht zu passen 
scheinen. Dabei kommt die deutsche Wissenschaft mit ihrer Gründlichkeit 
nicht zum Besten weg. Die Theorie vom Rechtsstaat wird als gefährliche, 
unbestimmte, unvollständige und schon missbrauchte, natürlich von den 
Deutschen erfundene Formel bezeichnet (S. 7 A. 3), die deutsche Behand- 
lung des Stoffes nach den Staatsorganen als verwirrend und die Funktionen 
- auseinanderzerrend hingestellt (S. 14). STEIN unterscheidet bekanntlich im 
organischen Staate drei Elemente, das Ich des Staates, sein bewusstes und 
unabhängiges Wollen und seine Handlung und dementsprechend auch drei 
Gewalten: der Souverän, die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt. 
MoRreLLı sagt (S. 37), diese Eintheilung mache, was einfach und verständlich 
sei, verwickelt und verworren, obwohl er selbst VoLonTA und AZIONE unter- 
scheidet, also nur den Souverän streicht, der nach ihm im allgemeinen Volks- 
willen untergeht. Mag aber die Kritik der Lehre Stein’s berechtigt sein 
oder nicht, unberechtigt und nicht vereinbar mit der Würde einer wissen- 
schaftlichen Abhandlung und selbst bei einem heissblütigen italienischen 
Schriftsteller nicht entschuldbar ist der vom Verfasser beliebte triviale Satz: 
Non rideremo in faccia allo Stein, tanto piü che non l’abbiamo dinanzi. 
Wie komisch wirkt gegenüber solchen Herzensergüssen das beständige Sich- 
verbeugen vor den italienischen Autoren; ist ja doch bei diesen „il nostro 
piü insigne maestro“ fast zum stereotypen Beisatz geworden. Dass MoRELLI 
die deutsche Unterscheidung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Ge- 
setzen als vollständig irrig verurtheilt (S. 71), ist nur die Folge seiner Auf- 
fassung vom (Gesetze überhaupt. 
Nach allem kann der kritische Theil der Abhandlung nicht als be- 
sonders glücklich durchgeführt erachtet werden; vielfach fehlt die gerechte
	        
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