Full text: Archiv für öffentliches Recht.Zehnter Band. (10)

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zweiten Band, der die Volkswirthschaftspolitik als „Darstellung der Ente 
wicklungsbewegung umfassen soll, in der sich die verkehrswirthschaftliche 
Organisation unter dem bestimmenden Einflusse der Interessen der einzelnen 
Gesellschaftsgruppen wie des Staates befindet“ (S. 32, wo der Plan des 
Ganzen aufgestellt wird). Wenn auch in diesem Uebergange der Verfasser 
eine vorzügliche Geschicklichkeit der Disposition und eine höchst schätzens- 
werthe Gabe der Orientirung bewährt, so möchte ich doch bemerken, dass 
er der „Sozialreform* eine zu grosse theoretische und praktische Bedeutung 
beizumessen scheint, wenn er sie — unter ausdrücklicher Beschränkung auf 
das deutsche Reich! — als wirthschaftspolitische Partei neben Individualismus 
und Sozialismus stellt. Aus der Betrachtung des wirklichen Lebens können nur 
die Lebensparteien sich ergeben, und also der Gegensatz der Unternehmer- und 
der Arbeiterpartei; jene zerfällt dann wieder in die des unternehmenden 
Grundbesitzes, des industriellen und des Handelskapitals; hinter dem ganzen 
Gegensatze beharren aber die alten noch mit Besitz ausgestatteten Arbeitstände: 
sobald sie sich wirthschaftpolitisch organisiren, werden sie zwischen jenen 
Gegensatz gestellt, ohne ihn vermitteln zu können; und solche Elemente sind 
allerdings in dem enthalten, was hier als Partei der Sozialreform beschrieben 
wird. Die eigentliche Analyse der politischen Parteien ist in jedem Sinne 
eine noch viel komplizirtere Aufgabe. — Was aber die theoretischen Funda- 
mente betrifft, so möchte ich nur eine Bemerkung mir erlauben. Die Unter- 
scheidung der „Motive“ wirthschaftlichen Handelns (S. 68ff.) kommt nicht 
über den Gemeinsinn als „nicht eigennützigen Antrieb“ hinaus. Ich be- 
haupte dagegen, dass die Natur des vernünftigen Willens, und d. h. eben 
dessen, was man gemeinhin als Egoismus bezeichnet, das ist, was hier unter- 
sucht werden sollte. Man kann ruhig sagen, dass alle wirthschaftlichen 
Handlungen, in jedem empirischen Systeme der sozialen Verfassung, egoistisch 
sind, wenn man auch die Liebe zu Weib und Kind, zur Heimath und zum 
Vaterlande, zur Gemeinde und anderen Genossenschaften, deren Glied einer 
ist, hineinbezieht; denn was immer dem Menschen lieb und ehrwürdig ist, 
ist es um des eigenen Ichs willen. Andererseits frohnen auch die speziell 
und im höchsten Grade egoistisch genannten Handlungen, z. B. die des 
Wucherers, keineswegs nothwendig dem isolirten Interesse eines einzelnen 
Menschen, sondern geschehen — möglicherweise mit persönlichem Wider- 
willen, und bei persönlich geringsten Bedürfnissen — um Kindern und 
Kindeskindern eine höhere soziale Stellung oder die Mittel zur Ausbildung 
ihrer Talente zu verschaffen, Wie häufig ist z. B. dies unter Juden, die 
als wirthschaftlich sehr egoistisch mit Recht berufen sind. Viel tiefer, ge- 
rade für die politische Oekonomie, liegt der Unterschied, der das Verhält- 
niss von Zweck und Mitteln betrifft; er geht durch die ganze Entwicklung 
des wirthschaftlichen Lebens hindurch. Entweder Zweck und Mittel sind 
Theile eines organischen Ganzen, sind innerlich verwandt und eng zusammen- 
hängend — oder sie sind einander fremd, strenge ‚getrennt und vielleicht
	        
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