— 342 —
eines im Reichstage gestellten Antrages: „den Reichskanzler zu
ersuchen, beim Bundesrat zu beantragen“, die gesamte Auffassung
über die Stellung des Kanzlers überhaupt so vollständig überein,
dass es unmöglich ist, aus der Zeit von 1870—1890 die Bildung
des bezeichneten Gewohnheitsrechtes nachzuweisen.
Sofern man überhaupt dem Gewohnheitsrechte eine dero-
gierende Kraft gegenüber dem Verfassungsrechte einräumen
kann*’, darf man doch bei der Feststellung dieses Herkommens
nicht in jeder unrichtigen Formel, im amtlichen Styl, in der Art
der Publikation etc. eine rechtsbildende Uebung finden. Auch
in dieser Hinsicht gilt die Ansicht des ersten Kanzlers, die er
gegenüber dem oben erwähnten Antrage (26. März 1884) aus-
sprach: „Eine Ueblichkeit (Gewohnheit) ändert nichts an den
Bestimmungen der Verfassung. Ich habe früher auf die Form
soviel Gewicht nicht gelegt; aber nachdem ich habe vernehmen
müssen, dass man mich einer Machterweiterung zeiht, bin ich
entschlossen, genauer darauf zu achten, dass Niemand dem Reichs-
kanzler eine Attribution, eine Kompetenz beilegt, die ihm ver-
fassungsmässig nicht zusteht. Ich werde mich bemühen, den
Reichskanzler, der aus Bequemlichkeit im Geschäft in der par-
lamentarischen Stilistik ein sehr in den Vordergrund tretender
Begriff geworden ist, der gewissermassen über seine verfassungs-
mässige Grösse aufgebläht ist, zu verkleinern.“ — U.E. sind
BORNHAK und FiscHER hienach nicht in der Lage, eine Uebung
nachzuweisen, welche die Grundlagen der Reichsverfassung ver-
schieben könnte. —
Ein weiterer Grund für die kaiserliche Initiative soll darin
liegen, dass die preussischen Ministerien nicht in der Lage seien,
Entwürfe für Reichsgesetze auszuarbeiten, namentlich die jähr-
lichen Etatgesetze, die auf die Rechnungslegung bezüglichen Vor-
47 Dagegen SeypeL, Bayer. Staatsrecht III S. 590; Lasann a. a. O.
I S. 553,. für. die derogierende Kraft; Dyrorr, Annalen 1889 S. 827 u. ff.