— 458 —
unserem Leserkreise kurz zur Anzeige bringen wollen. Das Programm des
ersten Entwurfes ist nicht nur reichlich eingehalten worden, es hat inhaltlich
werthvolle Erweiterung gefunden; die Autonomie der Autoren hat sich all-
mählich' befestigt, indem diese mit sanfter Gewalt eine ihrer Individualität
angemessene Mannigfaltigkeit in den einheitlichen Arbeitsplan gebracht haben.
Die im Laufe der Zeit eingetretene wiederholte Bearbeitung desselben Stoffes
durch verschiedene Autoren in verschiedenem Geiste mit gründlich abweichen-
dem wissenschaftlichen Apparat eröffnet zuweilen nicht nur ein weites Feld
ergiebiger 'vergleichender Betrachtung, es treten uns in dieser Nachfolge mit-
unter auch verschiedene Arbeitsperioden und Wandlungen in der ganzen
Methode entgegen. Auch nach dieser Richtung hin wird das Handbuch in
künftigen Tagen als Prüfstein für das wissenschaftliche Schaffen unserer Zeit
gelten können. Es wird mit Recht als Massstab benutzt werden, um den
„Record“, hoffentlich ist der Ausdruck nicht ganz verfehlt, zu bemessen,
den unsere Zeit in dem Vermögen der wissenschaftlichen Fassung und Aus-
prägung der uns umgebenden staatlichen Welt erreicht hat. Es ist immer
ein gewagtes Spiel, in die Rolle des Propheten zu verfallen und unser Sinnen
und Fühlen künftigen Tagen anzuempfinden; gleichwohl glauben wir annehmen
zu sollen, dass der künftige Litterarhistoriker in diesen in gleichem Schritt
und Tritt sich bewegenden, vielfach trefflichen Darstellungen des deutschen
Staats- und Verwaltungsrechts zwar ebensoviele Zeugnisse für die Geschichte
unserer Zeit und unserer litterarischen Bewegung erblicken, aber auch zu-
gleich darüber staunen wird, dass die dringendsten Probleme unserer Tage, die
heftigen Fragen, die wir von der Tagesordnung nicht abbringen, die wir
nicht lösen und von denen wir uns nicht ablösen können — für die zeit-
genössische fachjuristische Arbeit zumeist nicht zu existiren scheinen. Merkt
ein aufmerksamer Leser all dieser Staats- und Verwaltungsrechtswerke in
der sorgfältigen Darstellung der Amtsorganisation, des Behördensystems in
Reich und Staat, in Provinz und Gemeinde etwas vom erdrückenden bureau-
kratischen System, das in unseren Tagen alles staatliche Leben mit seinen
Fangarmen umschlungen hält? Die kurze Darstellung, die v. Massow in
seinem wahrhaft und wirklich vornehmen Geistes geschriebenen Buche
„Reform oder Revolution“ (Berlin, Liebmäun 1894, S. 238f.) von den Rang-
verhältnissen der „Decernenten“ und vom Uebergang der „Souveränetät auf
die Herren des Departements“ giebt, erklärt auch juristisch den ganzen
mpdernen Beamtenstaat in seinen Licht- und Schattenseiten weit deutlicher
und zutreffender, als die geistvollsten Kommentare zu unserem abwechslungs-
reichen deutschen Beamtenrecht. Merkt jener Leser etwas vom tiefen Riss,
der zwischen städtischer und ländlicher, zwischen grossstädtischer und klein-
städtischer Verwaltung klafft? Kein Wort verräth etwas von den grossen wirth-
schäftlichen und sozialen Kämpfen organisirter Interessengruppen, von den
tiefsitzenden nationalen und religiösen Gegensätzen, von der Spaltung zwischen
Ost..und West, zwischen Hoch und Niedrig? Von gll den tausend Zügen