— 600 ° —
handenes ausgebaut und das ius reformandi sowie die Verpflichtung des
weltlichen Regiments, für das Wohl der Kirche zu sorgen, bloss erweitert.
Diese Pflicht galt übrigens der reformatorischen und nachreformatorischen
Zeit als eine politische, als eine Landesangelegenheit. Darum wirkten die Stände
bei der Ausübung des Kirchenregimentes mit. Dessenungeachtet kann man nicht
von einem Aufgehen der Kirchengewalt in der Staatsgewalt reden. Die Kon-
sistorien und Superintendenten waren kirchliche Behörden, eingesetzt, um eine
Regierung der Kirche durch den Hof zu verhindern, und trotz ihrer Ernennung
durch den Landesherrn von ihm nicht unbedingt abhängig. Denn als höchste
Norm galt für sie wie für alles Kirchenregiment Gottes Wort und das Bekenntnis.
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts bricht die mittelalterliche Welt-
anschauung zusammen. Die Idee der natürlichen Religion und des Natur-
rechts erfüllt die Köpfe. Alle Transcendenz und damit auch die Einheit und
der vorwiegend anstaltliche Charakter verschwindet aus dem Begriff der
Kirche. Man denkt nur an die Lokalgemeinde oder an die auf ihr sich auf-
bauende Korporation, die sich bloss ihrem Zwecke, nicht aber ihrer Natur
nach von den anderen Genossenschaften unterscheidet und wie diese vom
Staat in strenger Abhängigkeit gehalten wird. Das Vorhandensein einer
Mehrheit von solchen Kirchen ruft das Prinzip der Parität ins Leben und
macht den Staat gleichgültiger; es — und die Existenz weiterer Religionsgesell-
schaften — führt auf den Begriff der Kirchenhoheit (ius circa sacra). Das
weitergehende eigentümliche Regiment des Landesherrn über die evangelische
Kirche wird theoretisch als Ausfluss der Landeshoheit erklärt oder durch
einen iure devolutionis oder ex pacto erfolgten Uebergang der kirchlichen
Gesellschaftsrechte, während die Praxis es durchaus als Bestandteile der
Staatsgewalt auffasst und vom Standpunkt der Polizei aus handhabt.
In unserem Jahrhundert macht das Paritätsprinzip weitere Fortschritte.
Die Unterscheidung von ius circa sacra und ius in sacra wird praktisch. In
diesem erblickt man nunmehr ein Annex der Staatsgewalt. Es entsteht
jetzt das landesherrliche Kirchenregiment im modernen Sinne des Wortes.
Rechtlich lässt es sich nicht erklären, historisch aber stellt es sich dar als
die Fortsetzung der herrschenden Stellung der evangelischen Kirche als
Landeskirche nur in anderer Form.
Inzwischen hatte SCHLEIERMACHERS neue Auffassung der Religion als
einer Bestimmtheit des Gefühls in den Kreisen der Gebildeten die Herrschaft
erlangt. Dies, die gleichzeitige Beschränkung der Aufgabe des Staates auf
den Rechtsschutz und die Unmöglichkeit, das ius circa sacra der katholischen
Kirche gegenüber von dem ihr überlassenen ius in sacra sauber zu scheiden,
führten dazu, dass das Frankfurter Parlament das Prinzip der Trennung von
Kirche und Staat proklamierte. Durchgeführt wurde allerdings nur ein ge-
ringer Teil des in Art. DI $$ 14—21 der Grundrechte aufgestellten Pro-
gramms. Ein Gang durch das Verfassungsrecht der evangelischen Kirche in
den einzelnen Territorien Deutschlands lehrt, dass das Staatskirchentum und