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Geleisteten; dies wird auch gerade an der Hand der Werke Gneist's über
Englands Verwaltungssystem scharf erkennbar. Es sind mehr als vierzig
Jahre verflossen seit zum ersten Mal der Schleier von jenen Institutionen
hinweggezogen worden war, die der kontinentale Idealismus früher geliebt
als gekannt hat. Seither hat sich in organischer langsamer Fortbildung
der Apparat des kommunalen und staatlichen Lebens in England mächtig
umgestaltet, er hat veraltete Theile abgestossen oder ausser Dienst gestellt,
neue bisher unbekannte Einrichtungen adoptirt, Lücken ausgefüllt und selbst
kontinentale Typen in nationaler Anpassung dem System angegliedert. An
dieser Stelle bedarf die vorhandene Litteratur ihrer sachlichen Ergänzung,
um sich auf dem Laufenden zu erhalten, um einen Einblick in das Leben
der Wirklichkeit zu ermöglichen. Mannigfache Ansätze hierzu liegen bereits
vor in den Arbeiten ERNST SCHUSTER’s, INHÜLSEN’S, GRUEBER’S, V. KIRCHEN-
HEIM s, bis zu kleineren informatorischen Aufsätzen der Tages- und Zeit-
schriftenpresse, wie z. B. in MiLrErstÄänr's elementarem Aufsatz über das
Rechtsleben Englands und der Vereinigten Staaten Nordamerikas im Ver-
gleich mit dem unserigen in den Preuss. Jahrbüchern (August 1896).
Dem gleichen Bedürfniss ist die vorliegende gewandte Darstellung zu
dienen bestimmt. VAUTHIER will ein encyklopädisches Gesammtbild aufrollen
und er hält sich daher für verpflichtet, auch den historischen Ausgangs-
punkten nachzugehen, offenbar liegt aber der Schwerpunkt seiner Ausfüh-
rungen nicht in diesen rekapitulirenden Partien, die den Bestand bisheriger
Ermittlungen nicht erweitern, wohl aber in den mit Hilfe der Originalquellen
bis zur Neuzeit fortgeführten Darstellungen des gegenwärtigen Rechts-
zustandes in den wichtigsten Zweigen der Kommunal- und Provinzialverfas-
sung, soweit der Ausdruck hier überhaupt zutreffende Bedeutung hat. Mit
viel Sachkunde skizzirt VAUTHIER überall den sozialen Hintergrund, von dem
sich die Reformen in Justiz und Gerichtsorganisation, in der Zusammen-
setzung der Selbstverwaltungskörper im Kirchspiel und in der Gemeinde-
geschäftsführung ete. abheben. In gewohnter lichtvoller Sprache im Tone
eines anregenden Lehrvortrages zeigt VAUTHIER die grosse Tragweite der
Reformgesetze von 1879 (the summary jurisdiction Act), von 1888 (51 et 52
Vict. c. 41) über die Grafschaftsverwaltung, der Smal Holdings Act von 1892,
der Wahlreform von 1894 etc. Freilich zeigen auch die Kapitel VII über
La sante publique et les conseils de district und Kapitel IX über l’Enseigne-
ment primaire wie schwer beweglich der alte Staatskörper an vielen Punkten
sich erweist, wie bei jedem wirksameren Hemmniss das grosse reiche Eng-
land weit hinter mittleren und kleinen kontinentalen Kulturstaaten zurück-
stehen muss in der Pflege wahrhaft volksthümlicher Wohlfahrtseinrichtungen.
Ganz besonderes Interesse bietet Kapitel X, das dem ganz eigenartigen Ver-
waltungssystem der Metropole gewidmet ist.
VAUTHIER führt hier das ganze Gesetzesmaterial in übersichtlicher Dar-
stellung vor, das alle diese Splittergemeinwesen allmählich zu einem grossen