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In den vorstehenden Ausführungen haben wir bereits zur
Lehre JELLINEKS Stellung genommen. Es ergiebt sich aus ihnen
insbesondere, dass wir eine Generaldelegation zur Aufhebung bzw.
Suspension der Verträge und der aus ihnen resultierenden (Gre-
setze nicht anerkennen können. Aufhebung und Suspension der
Verträge sind dem Kaiser vom Bundesrat und Reichstag nicht
delegiert, sondern bilden einen Bestandteil seiner verfassungs-
mässigen Kompetenz. Will man deren Einräumung als Delegation
bezeichnen, so ist gegen den Ausdruck weiter nichts einzuwenden.
Die Aufhebung und Suspension der Vertragsgesetze ist dem Kaiser
aber nicht delegiert; er kann sie nicht im Wege der Verordnung
herbeiführen. Wäre mit ZoRN anzunehmen, dass die Vertrags-
gesetze nicht zugleich mit den Verträgen erlöschen, oder würde
das Deutsche Reich diesen Satz seiner Verfassung einverleiben,
so könnte das Vertragsgesetz nur durch ein neues Gesetz ausser
Kraft gesetzt werden.
Die entwickelten Grundsätze finden auch dann Anwendung,
wenn nicht der ganze Vertrag, sondern nur ein Teil von ihm
aufgehoben, bzw. suspendiert wird. In Fällen eines Notstandes,
der Nichterfüllung des Vertrages von seiten des Mitkontrahenten,
beim Beginn eines Krieges, bei Ergreifung von Repressalien kann
das Deutsche Reich mit der Aufhebung einer einzelnen Vertrags-
bestimmung sich begnügen. Dann tritt auch nur die entsprechende
Bestimmung des Vertragsgesetzes ausser Kraft.
Anders liegt der Fall, dass ein Kontrahent sich die Befug-
nis vorbehalten hat, eine einzelne Vertragsbestimmung unter ge-
wissen Bedingungen nicht zu erfüllen, bei ihrem Eintritt staats-
rechtliche Anordnungen zu erlassen, welche mit der Vereinbarung
in Widerspruch stehen. Der deutsch -österreichische Handels-
vertrag vom 6. Dezember 1891 °? bestimmt in Art. 1: „Die ver-
tragschliessenden Teile verpflichten sich, den gegenseitigen Ver-
kehr zwischen ihren Landen durch keinerlei Einfuhr-, Ausfuhr-
®2 R.-G.-Bl. 1892 8. 3.