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Was aber die Unübertragbarkeit des souveränen Volkswillens anlange,
so widerspreche jede Art von Repräsentativverfassung diesem Grundsatz. Es
sei eine unhaltbare Fiktion, den Willen des Volks für unübertragbar zu er-
achten und zugleich Vertreter zuzulassen, welche nach ihrem eigenen, freien
Willen ohne Auftrag und ohne Verantwortlichkeit abstimmen; indem die
Verfassung den Willen dieser Vertreter für den Volkswillen erklärt, sanktio-
nirt sie die Uebertragung des Volkswillens vom Volke auf die Versammlung
der Deputirten. Das Volk habe als solches überhaupt keinen Willen; einen
solchen habe nur der Einzelne; jeder Einzelne habe einen Antheil an der
Volkssouveränetät, indem sein individueller Wille zur Bildung des allgemeinen
Volkswillens mitwirke, Dabei sei es aber unerheblich, ob Jemand seinen
individuellen Willen selbst unmittelbar erklärt oder ob er ihn durch einen
Stellvertreter erklären lasse, der an den ihm ertheilten Auftrag gebunden
sei. Der von den Wahlberechtigten eines Wahlkreises gewählte Deputirte sei
ihr gemeinschaftlicher Vertreter, durch den sie ihren Antheil am Volkswillen,
d.h. der Souveränetät des Volkes, zur Ausübung bringen. Dies sei aber nur
möglich, wenn er an die ihm ertheilten Instruktionen gebunden sei, und folg-
lich entspreche das imperative Mandat allein dem Grundprinzip der Volks-
souveränetät. Auf die Frage, in welcher juristischen Form es in praktisch
durchführbarer Weise zu gestalten sei, geht der Verf. nicht ein; er hat sich
darauf beschränkt darzuthun, dass es ein Widerspruch sei, ein Staatswesen
auf die Volkssouveränetät zu gründen und den Wählern die Stellung von
Mandanten ihren Gewählten gegenüber zu versagen. Inwieweit das imperative
Mandat in einem Staatswesen, das nicht auf das Prinzip der Volkssouveräne-
tät gegründet ist, gerechtfertigt sei, erörtert der Verf. nicht; er hatte dazu
auch keinen Anlass, da das Verbot des imperativen Mandats 1789 aus dem
Grundsatz der Volkssouveränetät hergeleitet wurde und aus der französischen
Verfassung vom 3. Sept. 1791 Art. 7 in alle anderen übergegangen ist.
Man muss dem Verf. Recht geben, dass, wenn die Volksvertreter als
Mandatare gedacht werden, die logische Konsequenz zu dem imperativen
Mandat führt, auch wenn man sie als Vertreter des ganzen Volkes und nicht
als Vertreter der Wählersehaft, welcher sie ihr Mandat verdanken, sich vor-
stellt. Aber diese ganze Vorstellung ist abzulehnen. Die Volksvertreter
vertreten Niemanden, weder ihre Wähler, noch das ganze Volk. Der Aus-
druck „Volksvertretung“ hat eine politische Bedeutung, keine juristische.
Der Volksvertreter hat öffentlichrechtliche Funktionen kraft Gesetzes, nicht
kraft Auftrages. Das Verfassungsrecht erfordert ein Organ, welches un-
abhängig vom Willen des Monarchen und seiner Beamten gebildet wird, und
bedient sich zur Herstellung dieses Organs der Wahlen als eines Mittels.
Wenn der Wahlberechtigte seine Stimme abgegeben hat, ist seine Öffentlich-
rechtliche Funktion erfüllt, sein sog. Recht erschöpft. In ein rechtliches
Verhältniss zu dem Gewählten tritt er überhaupt niemals; der Wähler der
siegenden Majorität ebensowenig wie der Wähler der unterliegenden Par-