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unbestrittene Autorität für die Theorie wie für die Praxis sich errungen hatte.
Gerade auch deshalb, weil seine Reichsstaatslehre nicht nur bei seinen zahl-
reichen Schülern, die er mit der zwingenden Gewalt seiner logischen, offen
und rückhaltlos ausgesprochenen Darlegungen fesselt, sondern auch in amt-
lichen und politischen Kreisen Süddeutschlands für die Auffassung unserer
staatlichen Verhältnisse in Deutschland massgebend geworden ist, erscheint
u. E. eine Anzeige der neuen Auflage des SeYDEL’schen Kommentars auch in
dieser wissenschaftlichen Zeitschrift gerechtfertigt.
SEYDEL hat seine bekannten, der allgemeinen Siaatslehre angehörenden
Grundsätze über den Begriff des Staates, welcher als die Vereinigung der
Menschen eines Landes unter einem höchsten, einheitlichen Willen definiert
wird, des Bundesstaates und Staatenbundes, die Charakterisierung des deutschen
Reiches als eines staatsrechtlichen Staatenbundes vollständig unverändert
wiederholt und es mit Recht als einen unbestrittenen Erfolg seines Angriffes
auf die Waıtz’sche Lehre bezeichnet, dass die Unbeschränktheit und Unteil-
barkeit der Souveränität wieder allgemein anerkannt und deshalb die bis-
herige Bundesstaatslehre preisgegeben worden ist. Man habe aber geglaubt,
auf den Bundesstaatsbegriff — namentlich im Interesse der unitarischen Ent-
wickelung — nicht verzichten zu können, und deshalb die Umarbeitung des
Begriffs dahin versucht, dass er mit dem Souveränetätsbegriff nicht in Wider-
spruch käme: „das war und ist ein aussichtsloses Unternehmen“. — Wer die
Souveränetät als essentielles Merkmal des Staates betrachtet, kann das
Deutsche Reich nur als Einheitsstaat oder als Staatenbund bezeichnen; was
HäneL Bundesstaat nennt, ist „nur eine Verhüllung des Einheitsstaates“.
U. E. kann man die Konstruktion SEYDEL’s, wenn man die geschichtlichen
Thatsachen im Sinne derjenigen darstellt, welche sie vollführten, nur dann
ernstlich angreifen, wenn man die Souveränetät aus dem Staatsbegriffe aus-
scheidet — es würde zu weit führen, diesen Fundamentalstreit hier aufs neue
auszutragen; wir sind weder durch LaBanp’'s geistvolles Staatsrecht, noch
durch JELLINER’s neuesten Versuch, zwischen Staat und Provinz den Begriff
des „Staatsfragmentes“ oder „Landes* einzuschieben, zu der Ansicht gebracht
worden, dass eine nichtsouveräne Volksgemeinschaft als Staat im Sinne der
Staatsrechtswissenschaft aufzufassen sei. Es ist auffallend, dass die staats-
rechtliche Theorie mit der Ansicht der deutschen Staatsmänner, welche die
Verträge schlossen und die Verfassung schufen, so wenig übereinstimmt.
Häner’s Erklärung, dass in allen Gründungsakten des Norddeutschen Bundes
und des Deutschen Reiches, vor allem leider in der Textierung der Ver-
fassung selbst, die juristische Technik eine geradezu klägliche Rolle gespielt
habe, nimmt die Sache doch zu leicht. — Es liegt wohl näher, zu fragen,
ob diese Theorien das Problem des Bundesstaates überhaupt richtig gestellt
haben, und ob nicht ihre Grundbegriffe gegenüber den Neugestaltungen der
Staatsgemeinschaften hätten umgebildet werden müssen. SEYDEL weist mit
vollem Rechte darauf hin, dass u. a. die gesamte staatsrechtliche
Archiv für Öffentliches Recht. XII. 2. 19