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Litteratur — mit Ausnahme Archiv f. öff. Recht Bd. XI, S. 8329 — an
der feierlichen amtlichen Erklärung des Bundesrates vom 5. April
1884, welche das unverbrüchliche Festhalten an den Bundesverträgen
garantiert, achtlos vorübergegangen ist, weil dieses Zeugnis für die
föderativen Grundlagen der Reichsverfassung, abgegeben in der bewussten
Absicht, den Bestrebungen, die „eine Ueberschreitung der Bedürfnisgrenze
in unitarischer Richtung“ bezielten, entgegenzutreten, mit den vorherrschen-
den Theorien nicht vereinbar ist. — Geht es an, bei der Auslegung von
Verträgen die wiederholt und deutlich, übereinstimmend ausgesprochene Ab-
sicht der Kontrahenten einfach zu ignorieren und ihnen zu sagen, dass ihre
Abmachungen den gewollten Zweck verfehlt hätten und sie nicht imstande
gewesen seien, ihre Absicht zu äussern? Liegt in diesem unleugbaren Wider-
spruche nicht die Mahnung, künstlich ausgeklügelte Konstruktionen und
Sophismen aufzugeben und zur wissenschaftlichen Betrachtung der That-
sachen zurückzukehren? — Wir haben schon anderwärts — vgl. Beilage
der Münchner Allgemeinen Zeitung 1896 No. 263 — auf den zweifel-
losen Vorzug der SEYpEL’schen Theorie, dass sie den geschichtlichen Er-
eignissen und dem Willen der Bundesgenossen keinen Zwang anthut, hin-
gewiesen.
SEYDEL hat hier — unter Bezugnahme auf seinen bekannten Aufsatz: Die
neuesten Gestaltungen des Bundesstaatsbegriffes (Annalen des Deutschen
Reiches 1876 S. 641ff.) — die anderen Lehrmeinungen einer eingehenden
kritischen Würdigung nicht mehr unterstellt, wenn er auch Häner’s Kon-
struktion des Einheitsstaates wie die LaBann’sche Preisgebung der Souverä-
nität als Merkmal des Staates mit kurzer Begründung in der Einleitung des
Buches bekämpft. Der Grundgedanke der SeypEL'schen Auffassung lässt sich
in Kürze folgendermassen zusammenfassen: Der Inhalt der Verfassung spricht
ebensowenig wie deren Ueberschrift für die Absicht der Staatsgründung.
Nirgends ist von einem Zusammenwerfen der Einzelsouveränitäten in eine
einzige die Rede, sondern nur von der Uebertragung einzelner Rechte an
die Gesamtheit. Der Bundesgewalt fehlt zu einer Staatsgewalt das wesent-
liche Merkmal, die Unbegrenztheit. Die Bundesgewalt wirkt innerhalb eines
jeden Staates als Landesgewalt, die Bundesgesetzgebung als Landesgesetz-
gebung. Beide haben ihre Kraft nicht aus sich selbst, sondern aus der
Bundesverfassung, die als Landesgesetz und nur als solches verkündet ist. —
Der Satz, dass Art. 78 der Verfassung dem Bunde eine Herrschermacht über
die Staaten einräume, wird überhaupt nur dann Eindruck machen, wenn man
mittels der Vorstellung einer juristischen Person „eines Homunculus des
rechtswissenschaftlichen Laboratoriums“, den Bund von seinen Gliedern los-
löst. Derjenige, welcher annimmt, dass der Bund „die Verbündeten“, nicht
irgend welcher Dritte, sind, wird zur Folgerung gelangen, der Satz, dass die
Verbündeten durch ihren eigenen Beschluss — allerdings gemäss einer all-
gemeinen Abmachung durch Beschluss der Mehrheit — den Wirkungskreis