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Noch sehr viel mehr muss man aber dem Verf. zugestehen, wenn man
seine Theorie politisch fasst. Die Anatomie und Physiologie und daher
auch die Morphologie der Staatskörper ist bis jetzt wissenschaftlich so wenig
entwickelt, das Quantum von allgemein anerkannten Sätzen, über das wir in
dieser Beziehung verfügen, ist noch so überaus gering, dass in der politischen
Wissenschaft eigentlich jeder Recht hat, der von irgend einem raisonnablen
Standpunkte aus sein Recht demonstriren kann. Nun mag man sich persön-
lich zum Föderalismus im Deutschen Reiche stellen, wie man wolle: das Eine
ist nicht zu leugnen, dass in einem Staatswesen wie das Deutsche Reich ein
strenger Unitarismus als eine politische Richtung unter mehreren an sich Exi-
stenzberechtigung hätte. Es ist ein Mangel unseres politischen Lebens, dass
die Grundfrage, ob denn überhaupt die Einzelstaaten nothwendig sind, ja ob es
auf die Dauer auch nur möglich sein wird, die Ineinander-Schachtelung zweier
Gesetzgebungen zu ertragen, niemals zur Erörterung gelangt. Würde diese
Frage aufgerollt, so würden diejenigen, die sie verneinen, die gewaltige That-
sache für sich anführen können, dass in den letzten 30 Jahren die Leistungen
der einzelstaatlichen Gesetzgebung in einer Weise zusammengeschmolzen sind,
wie dies bei der Schöpfung der Verfassung von 1866 und 1871 niemand auch
nur annähernd geahnt hatte. Mit jeder neuen Materie, die die Reichsgesetz-
gehung regelt, wird die einzelstaatliche Kompetenz, formell dieselbe bleibend,
materiell beschränkt. Ist also die einzelstaatliche Kompetenz im Zusammen-
schrumpfen begriffen, so kann man einer politischen Theorie, welche dieses
Staatswesen unter dem Gesichtspunkt des Einheitsstaates mit einigen Ab-
normitäten verstehen und begreiflich machen will, die Berechtigung nicht ab-
sprechen. Dann aber stellt sich die Kontinuitätslehre in der That ähnlich,
wie v. RuVILLE sie darstellen will. Man muss sagen, dass das deutsche Staats-
wesen seit dem Zeitalter der Ottonen und Hohenstaufen die Postulirung
einer ganz Deutschland umfassenden Staatsgewalt war; dass diesem Erforder-
niss deutschen Staatslebens zunächst in der Form eines Kaiserthums genügt
wurde, das mit seinem materiellen Inhalt beständig in Widerspruch gerieth;
dass nach den Ereignissen der Jahre 1806/15 diese Form ganz verschwand,
aber ohne darum als empfundenes Erforderniss aufzuhören; dass man im
Jahre 1871 auf diese Form zurückgriff, um sie in einer Art wieder herzu-
stellen, die vor Widersprüchen mit dem materiellen Inhalte gesichert sein
sollte.
Dass der Verf. mit juristisch unzureichender Vorbildung an sein Thema
herangegangen ist, macht es erklärlich, dass er selbst von seinen logischen
Sprüngen ganz besonders entzückt ist, während er sonst wohl eingesehen
hätte, dass das, was sich an seiner Theorie historisch und politisch überhaupt
beweisen lässt, auch ohne „Beweis für den staatsrechtlichen Zusammenhang
zwischen altem und neuem Reich“ plausibel gemacht werden kann.
Charlottenburg-Berlin. Dr. J. Jastrow.