Der Positivismus in der Rechtswissenschaft.
Von
Dr. A. AFFOLTER in Solothurn.
Es wird wohl heute allgemein anerkannt, dass der Beamte
sich an das im Staate geltende Recht zu halten hat, dass er
seinen Entscheidungen und Verfügungen das positive Recht zu
Grunde legen muss. Eine andere Quelle des Rechts als die
staatliche Quelle ist für ihn ausgeschlossen, ein sog. Natur- oder
Vernunftsrecht darf in keiner Form Berücksichtigung finden. Ein
Richter würde seine Pflicht schwer verletzen, wenn er unter
Ausserachtlassung der staatlichen Normen sich auf ein höheres,
natürliches oder philosophisches Recht berufen wollte.
Darin, glaube ich, sind die Vertreter der Rechtswissenschaft
so ziemlich einig.
Wir können diese herrschende Richtung die positive nennen.
Unter Positivismus aber bezeichnen wir eine Ausschreitung
dieser Schule, die Uebertreibung des Satzes, dass nur das staat-
liche Recht im Staate Anerkennung finden dürfe. Diese Ueber-
treibung macht sich nach drei Richtungen hin geltend: der Kul-
tus, der mit dem Gesetzesbuchstaben getrieben wird; die Strenge,
womit bei der Begriffsbestimmung des Rechts auf die Positivität
abgestellt wird und endlich die Einseitigkeit, die darin liegt, dass
man die Positivität in ein äusserlich wahrnehmbares Geschehniss,
wie namentlich in die staatliche Sanktionirung verlegt!.
‘ Vgl. BERGBOHM, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie S. 538 ff.