Full text: Archiv für öffentliches Recht.Zwölfter Band. (12)

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nicht von ihm produzirt, sondern von ihm gefunden®. Weil der 
Richter an den Willen des Gesetzgebers gebunden ist, sei es an 
den erklärten oder an den muthmasslichen, so giebt es auch keine 
Lücken im Recht”. ÖObschon z. B. vor dem Jahre 1883 in ver- 
schiedenen Kantonen der Schweiz keine Wechselordnung bestand, 
wurden doch selbstverständlich Wechselstreitigkeiten richterlich 
6 Der Richter wählt unter den verschiedenen Möglichkeiten der Ge- 
staltung denjenigen Grundsatz aus, der ihm am Besten dem Willen des 
Gesetzgebers zu entsprechen scheint. Die Vorstellung der verschiedenen 
Möglichkeiten setzt allerdings die Hülfe der Phantasie voraus und soweit 
die Phantasie als produzirend betrachtet werden kann, ist die bezügliche 
Geistesthätigkeit des Richters bloss eine vorbereitende. Die schliessliche An- 
wendung des ausgewählten Rechtssatzes stellt diesen nicht als den eigenen, 
selbst produzirten, sondern als den, dem Willen des Gesetzgebers entspre- 
chend gefundenen hin. Der Vorgang ist ähnlich, wie bei der Lösung eines 
Räthsels; auch hier werden die verschiedenen Möglichkeiten mit Hülfe der 
Phantasie vorgestellt und an den gegebenen Merkmalen geprüft bis die 
richtige Lösung gefunden wird. 
” BERGBOHM, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie S. 372 ff. bestreitet 
vom positivistischen Standpunkte aus ebenfalls, dass es Lücken im Rechte 
gebe. Er unterscheidet nach zwei Richtungen: 1. Das Recht spricht sich 
über einen ganzen Thatsachenkreis, welcher rechtlicher Gestaltung fähig und 
bedürftig ist, gar nicht aus; hier seien keine Lücken vorhanden, sondern es 
bestehe ein rechtsleerer Raum, der durch eine geschlossene Demarkations- 
linie vom positiven Rechte abgeschlossen sei. 2. Innerhalb der Demarkations- 
linie drückt sich das Gesetz über einzelne Punkte nicht ausdrücklich aus; 
hier seien keine Lücken vorhanden, sondern es fehle nur die Evidenz des 
Rechts, der Richter vermöge durch logische Schlussfolgerungen die schein- 
baren Lücken auszugleichen. — Im rechtsleeren Raum herrscht nach Bere- 
BOHM das reine Belieben, die Willkür; Urtheile, welche der Richter über 
Streitigkeiten aus Gebieten, die in den rechtsleeren Raum fallen, erlässt, 
sind gar keine Rechtsurtheile, sondern bloss juristische Adiaphora. BERGBOHM 
spricht sich nicht deutlich darüber aus, ob der Richter Streitigkeiten, die 
aus dem sog. rechtsleeren Raume herrühren, überhaupt entscheiden dürfe 
und solle. Wie mir scheint, nimmt er die Kompetenz und die Pflicht dazu 
an und kommt so zu dem eigenthümlichen, jedenfalls nicht zu billigenden 
Schlusse, dass der Richter auf gewissen Gebieten nach Willkür entscheiden 
dürfe. Diese Theorie des rechtsleeren Raumes zeigt übrigens am deut- 
lichsten die Unhaltbarkeit des Positivismus, seine ganze Leere und Unfrucht- 
barkeit.
	        
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