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V.
Zu demselben Resultat, welches im vorigen Abschnitt ent-
wickelt worden ist, führt eine ganze Reihe anderer Erwägungen:
In 8 5 des Gesetzes vom 30. Dez. 1871 ist bestimmt, dass
der Oberpräsident für gleichmässige Ausführung der Gesetze
und Verordnungen zu sorgen hat. Für Ausführung der Gesetze
kann der Oberpräsident nur dann sorgen, wenn er selbst die
Gesetze beobachtet und Andere zur Beobachtung der Gesetze
veranlasst. Wie ist es nun denkbar, dass der Oberpräsident durch
& 5 des Gesetzes vom 30. Dez. 1871 zur Beobachtung der be-
stehenden Gesetze verpflichtet, nach & 10 desselben Gesetzes aber
von der Beobachtung der bestehenden Gesetze entbunden sein
soll? Wenn die herrschende Auslegung des $ 10 richtig wäre,
so müsste doch hier eine unlösbare Antinomie vorliegen und schon
aus diesem Grunde $ 10 unverbindlich sein.
Nach 8 10 des Reichsbeamtengesetzes, welches “gemäss
Art. I Abs. 2 des elsass-lothringischen Gesetzes vom 23. Dez. 1873
auch auf die elsass-lothringischen Landesbeamten Anwendung
findet, hat jeder Reichsbeamte die Verpflichtung, das ihm über-
tragene Amt der Verfassung und den Gesetzen entspre-
chend gewissenhaft wahrzunehmen und nach $ 13 desselben Ge-
setzes ist jeder Reichsbeamte für die Gesetzmässsigkeit seiner
amtlichen Handlungen verantwortlich. Der Oberpräsident war
zweifellos ebenso ein elsass-lothringischer Landesbeamter wie der
Reichskanzler ein Reichsbeamter ist (Art. II Ziff. 1 des Gesetzes
vom 23. Dez. 1873, $ 25 des Reichsbeamtengesetzes). Das Gesetz
vom 23. Dez. 1873 ist von demselben Gesetzgeber erlassen worden,
wie das Gesetz vom 30. Dez. 1871; dasselbe ist später erlassen
worden als das Gesetz vom 30. Dez. 1871; letzteres enthält nach
der herrschenden Meinung keine Spezialvorschrift, sondern eine
Generalvollmacht, es ist also absolut kein juristischer Grund er-
sichtlich, wesshalb $ 10 des Gesetzes vom 30. Dez. 1871 nicht
durch $$ 10 und 13 des Reichsbeamtengesetzes modifizirt und