— 571 —
äusserer Autorität**. Die Gesetze, welche den Organen des
Staates Rechte gegenüber den Unterthanen beilegen, müssen also
verbindliche Kraft gegenüber den Unterthanen haben; ebenso
müssen die Gesetze, welche den Unterthanen Rechte gegenüber
den Organen des Staates verleihen, für letztere verbindlich sein,
denn jedem Rechte steht eine entsprechende Pflicht gegenüber;
jeder Rechtssatz hat stets ein Gebot oder Verbot zum Gegen-
stande*°.,
Wenn nun das Gesetz den Organen des Staates allgemeine
Vollmacht ertheilte, die Gesetze nach Belieben zu beobachten
oder nicht zu beobachten, so würde diesen Gesetzen ihre ver-
bindliche Kraft entzogen; sie würden aus Rechtssätzen in Sätze
der Moral, der Rechtsphilosophie oder des allgemeinen Staats-
rechts umgewandelt werden.
Aus dem Begriff des Gesetzes folgt also, dass eine clausula
generalis, welche einer Behörde die Vollmacht verleiht, nach Be-
lieben die bestehende Rechtsordnung zu respektiren oder nicht
zu respektiren, unzulässig und ungültig ist.
VII.
Die durch den Diktaturparagraphen dem Öberpräsidenten
übertragenen ausserordentlichen Gewalten enthalten in Wirklich-
keit gar nichts Neues. OTTO MAYER hat in seiner „Theorie des
französischen Verwaltungsrechts“ bereits darauf hingewiesen, dass
$ 10 des Gesetzes vom 30. Dez. 1871 fast wörtlich eine Be-
stimmung reproduzirt, die bereits in der Instruktion für die
preussischen Oberpräsidenten vom 30. Dez. 1825 enthalten ist.
& 11 dieser Instruktion lautet:
„Als Stellvertreter der obersten Staatsbehörden sind die
Oberpräsidenten
4 LABAND: „Deutsches Staatsrecht“ (dritte Auflage), Bd. I S. 490.
45 SELIGMANN: „Der Begriff des Gesetzes im materiellen und formellen
Sinne“, S. 80. Berlin und Leipzig 1886.