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Bekanntlich hat sich erst in neuerer Zeit die richtige Ansicht Bahn ge-
brochen, dass die Grundrechte gar nicht subjektive Rechte der Unterthanen,
sondern Schranken der Verwaltung sind. Sie gehören also materiell gar
nicht in das Verfassungs-, sondern in das Verwaltungsrecht und sind über-
dies zum grössten Teile durch die neuere Reichs- und Landesgesetzgebung
aufgehoben. Was der Verf. unter den betr. Verfassungsartikeln bringt, da-
nach wird niemand gerade in seinem Buche suchen. Ueberdies ist ein grosser
Teil seiner Erläuterungen doch allzu dürftig, besonders wegen mangelnder
Berücksichtigung der rechtsgeschichtlichen Grundlagen. Man lese z. B. S. 80
die Ausführungen über das Kirchenstaatsrecht des A.L.-R. und über das
Verhältnis von Staat und Kirche überhaupt. Eine Streichung des ganzen
Kommentars namentlich zu den aufgehobenen Verfassungsartikeln hätte das
Werk des Verf. wesentlich verbessert.
Bei der weiteren Behandlung des Themas treten zwei Mängel besonders
hervor, die unzureichende rechtsgeschichtliche Grundlage und: die nicht aus-
reichende Beherrschung des positiven Materials.
Das Öffentliche Recht Deutschlands hat nächst dem englischen den am
meisten ausgeprägten historischen Charakter. Die preussische Verfassungs-
urkunde ist nicht gleich den Erzeugnissen der romanischen Konstituanten
der Ausgangspunkt eines neuen staatlichen Lebens, sondern nur ein Glied
in der grossen Kette geschichtlicher Entwicklung. Einen Kommentar zur
preussischen Verfassungsurkunde kann man daher nicht in derselben Weise
schreiben wie etwa einen solchen zur Grundbuchordnung. Das thut aber
der Verf. Dann und wann klettert er einmal bis zu einigen Bestimmungen
des Landrechtes zurück, dahinter und zum Teil dazwischen ist alles Finster-
nis. Damit lassen sich natürlich keine befriedigenden Ergebnisse zu Tage
fördern. Namentlich mag dabei hingewiesen werden auf die Ausführungen
des Verf. über das Verhältnis von Gesetz und Verordnung. Indem er den
Begriff des Gesetzes nach Art. 62 als einen materiellen auffasst und damit
ein selbständiges königliches Verordnungsrecht leugnet, setzt er sich nicht
nur in Widerspruch mit der herrschenden Theorie, sondern auch mit der
lebendigen Staatspraxis. Das wird nun an sich niemand dem Verf. verargen,
aber er muss: dann doch wenigstens seine Gegner anders widerlegen als durch
ein mitleidiges Lächeln über jene thörichten Menschen, die den landrecht-
lichen Bestimmungen über das Gesetz einige Bedeutung beimessen. Dass der
‘Verf. mit seiner eigenen Theorie nicht sehr weit kommt, zeigt am besten die
naive Bemerkung 8. 130, es sei nicht möglich, mit Sicherheit zu entscheiden,
‘ob die Organisationsverordnung vom 27. Oktober 1810 ein Gesetz sei. Ohne
gründliche rechtsgeschichtliche Kenntnisse gewiss nicht, insoweit hat der
Verf. ganz Recht.
“Daneben tritt aber doch auch, selbst wenn man sich auf den Boden
des reinen Dogmatismus stellt, die nicht ausreichende Berücksichtigung des
‚Materials, besonders der Literatur störend zu Tage. Es kann selbstverständ-