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Bereits eine flüchtige Prüfung der vorstehenden Bestim-
mungen ergiebt, dass die englischen und deutschen Anschauungen
über die Strafbarkeit falscher Eide auffallend weit auseinander-
gehen. Eine bloss fahrlässige Eidesverletzung ist in England
überhaupt nicht unter Strafe gestellt, und überall ist Voraus-
setzung, dass die Erklärung in einer „wesentlichen® Einzelheit
falsch ist. Es mag sein, dass das deutsche Strafgesetzbuch in
einzelnen Beziehungen zu weit geht; man hört häufiger, dass man
sich in deutschen Civilprozessen bloss deshalb vergleicht, um einer
Eidesleistung zu entgehen; jedenfalls besteht darüber kein Zweifel,
dass die englische Behandlung der Materie nicht nachahmungs-
wert ist. Man wird allerdings nicht mehr mit Mr. Pıckwicks
Anwalt in England ausrufen können „Perjury — it’s a legal
fiction, my dear sir, nothing more!“; immerhin lässt sich nicht
leugnen, dass man auch heute noch in England mit Eides-
leistungen in recht laxer Weise umgeht. Ein englischer Graf-
schaftsrichter empfahl kürzlich in der Law Quarterly Review, man
möge in Civilprozessen den Eid abschaffen. Für die Massen habe
der Eid keine religiöse Bedeutung mehr; ein Grafschaftsgerichts-
zeuge verschlucke einen Eid ebenso leicht, wie eine Auster; die
Eidesabnahme werde zu einer verächtlichen Farce. Da das reli-
giöse Gefühl im Volke abgestorben sei, möge man den sehr regen
Sportssinn zur Erforschung der Wahrheit ausnutzen und den Eid
durch eine Schillingwette ersetzen. Es braucht nicht hinzugefügt
zu werden, dass dieser letztere Vorschlag nicht ernstlich gemeint
ist; immerhin sollte man im Auslande nicht vergessen, dass man
in England auf das Kreuzverhör das Hauptgewicht legt, und nicht
auf den Eid.
Wie die Strafbarkeit der Eidesverletzung, so ist auch die
Fähigkeit, eidlich als Zeuge vernommen zu werden, in England
anders normiert, als im Deutschen Reiche. Das alte englische
Recht, welches die eidliche Vernehmung einer Partei als Zeuge
in eigener Sache in Civilsachen, wie in Strafsachen ausschloss, ist