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den Ehegatten als Entlastungszeugen zulassen, als Belastungs-
zeugen nicht zulassen wollte. Erwägt man, dass die Ergründung
der Wahrheit der Hauptzweck ist, so erscheint unser heutiges
Verfahren in einem recht eigenartigen Lichte. Auf der Anklage-
bank sitzt diejenige Person, welche vermutlich am besten über den
ganzen Fall orientiert ist und ebendieser Person ist seit ihrer Ver-
haftung der Mund verschlossen. Man hört häufig die Behaup-
tung, dass der Angeklagte Gelegenheit habe, sich zu äussern.
Es wird allerdings dem Angeklagten bei der förmlichen Erhebung
der Anklage vor dem Polizeirichter bedeutet, dass er Erklärungen
abgeben könne, dass dieselben indessen protokolliert und gegen
ihn verwendet werden würden. Unter hundert Fällen findet sich
kaum einer, in welchem der Angeklagte wirklich Erklärungen ab-
giebt. Das Verfahren vor dem Polizeirichter hat bekanntlich nur
die Bedeutung eines Vorverfahrens. Hinzukommt, dass man
Aeusserungen des Angeklagten im Vorverfahren im späteren Haupt-
verfahren nicht ohne Unbill benutzen kann, da seit den Aeusse-
rungen neue Momente aufgetreten sein werden, welche der An-
geklagte bei seinen Aeusserungen nicht kannte. Endlich haben
blosse Aeusserungen, deren Richtigkeit nicht im Wege des Kreuz-
verhörs sondiert ist, gar keinen Wert. In den seltenen Fällen,
in welchen Angeklagte Erklärungen abgegeben haben, sind letz-
tere schwerlich die Ursache der Freisprechung gewesen; wohl
aber steht zu erwarten, dass eine regelrechte Vernehmung zur
Freisprechung vieler Unschuldigen führen wird.“
Der dem Entwurfe zugrunde liegende, allgemeine, abstrakte
Gedanke, dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, seine Version
vorzutragen, fand auch die Billigung des nächsten Redners. Die
Schwierigkeiten entständen erst mit der praktischen Durchführung.
Solange der Angeklagte einen geschickten Verteidiger habe,
mache die Vorlage keine Schwierigkeiten. Letztere kämen erst
dann zum Vorschein, falls der Angeklagte ungebildet sei "und
keinen Verteidiger habe. Ein ungebildeter Mann vermöge keine
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