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im Kreuzverhör unterliegen werde. Wenn das Gleiche im Straf-
verfahren geschehe, lasse sich nichts dagegen einwenden. Die
Vorlage sei ferner noch nicht deshalb zu verwerfen, weil es ex-
treme Fälle gebe, in welchen Angeklagte, obschon unschuldig,
so ungeschickt aussagten, dass sie ihr eigenes Interesse schädigten.
Dass nach einer Reform im Sinne der Vorlage nicht besonders
verlangt werde, sei nicht auffällig; es sei nicht ersichtlich, von
welcher Seite ein derartiges Verlangen kommen solle. Jedenfalls
hätten sich die meisten Richter und eine grosse Anzahl anderer
Juristen für die Massregel erklärt, um ganz davon abzusehen,
dass seit 1879 dem Parlament Entwürfe über die fragliche
Materie vorgelegt worden seien. Es sei sehr leicht, extreme
Fälle auszumalen; z. B. könne man an den ungebildeten, un-
schuldigen Angeklagten erinnern, welcher keinen Verteidiger habe
und mithin selbst die Belastungszeugen dem Kreuzverhör unter-
werfen müsse. Mit dem Entwurfe werde jedenfalls ein Mangel
des Strafprozesses fallen. Es sei nicht ersichtlich, weshalb eine
Person, welche angeblich eine gewaltthätige Handlung beging,
wohl im Zivilverfahren, nicht aber im Strafverfahren aussagen
könne. Die alte Doktrin habe im Straf- wie im Zivilverfahren
den Angeklagten bezw. den Beklagten nicht als Zeugen zu-
gelassen, weil man annahm, er werde doch nicht die Wahrheit
sagen. Diese Doktrin sei seit langer Zeit verlassen worden und
werde heute als eine barbarische bezeichnet. Man habe nämlich
gefunden, dass Leute, welche ein grosses Interesse daran hatten,
die Wahrheit zu verschweigen, dennoch die Wahrheit bekannten.
Img Hinblick hierauf habe man im Strafprozess eine Ausnahme
nach der anderen eingeführt, so dass es heute bereits viele Fälle
gebe, in welchen der Angeklagte als sein eigener Entlastungs-
zeuge auftrete.. Es handele sich jetzt nur um zwei Möglich-
keiten: entweder müsse man die Ausnahmen wieder beseitigen,
oder die Ausnahme zur Regel erheben. Die richtige Devise sei:
vestigia nulla retrorsum. Dass der Angeklagte Fragen stellen