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aufeiner einseitigen Betonung eines Elementes der Rechtsbildung.
Eine wirklich erschöpfende Darlegung aller bei der Rechtsbildung
wirksamen Kräfte ist meines Erachtens so wenig möglich, wie
eine vollständige Aufdeckung des Zusammenhanges der politischen
Ereignisse durch die Geschichtsforschung. Noch weniger ver-
mögen wir festzustellen, welche einzelnen Gründe in einem einzelnen
Falle, und in welchem Umfange sie einen Einfluss ausgeübt haben.
Wir müssen uns stets begnügen, die wichtigsten Bedingungen
dessen, was geschehen ist, hervorzuheben, und erhalten so nur
ein annähernd richtiges Bild der Wirklichkeit. So interessant
und wichtig daher auch rechtsgeschichtliche Forschungen im
Einzelnen, d. h. die Aufhellung der Entwickelung der einzelnen
Rechtsnormen und Rechtsinstitute, sind, so unbefriedigend muss
nothwendig die Untersuchung der Ursachen der Entstehung des
Rechts im Ganzen bleiben.
Bezeichnen wir die Thatsachen, die den Ursprung des In-
haltes der BRechtssätze bilden, als Rechtsquelle im materiellen
Sinne, so stehen ihnen die Gründe für die Geltung des Rechts
als Rechtsquelle im formellen Sinne gegenüber. Der Ausspruch,
dass ein Rechtssatz „gelte“, kann aber, wie schon angedeutet,
eine doppelte Bedeutung haben.
Zunächst kann mit ihm gesagt sein, dass ein gewisser Zu-
stand besteht, nämlich der, dass der Rechtssatz regelmässig be-
folgt wird, dass die Handlungen der Menschen, von Abweichungen
Einzelner abgesehen, sich der Vorschrift der Rechtsordnung an-
wohnheitsrecht zu Tage treten. Niemand kann unter dem Vorwande, dass
er der allgemeinen Anschauung sich nicht anzuschliessen vermöge, der An-
erkennung der gewohnheitsrechtlichen Normen sich entziehen, denn er würde
hierdurch die Wirksamkeit des Volksgeistes in sich und damit auch seine
Zugehörigkeit zum Volke leugnen; diese aber ist eine Thatsache und von
seinem eigenen Belieben unabhängig. — Bei dieser Auffassung wird aber der
Einfluss des allen Volksgenossen Gemeinsamen überschätzt. Dass innerhalb
des Volkes verschiedene geistige Strömungen bestehen, die auch in Bezug
auf die Rechtsüberzeugung zu abweichenden Ergebnissen führen, ist eine
Thatsache, die im politischen Leben nur zu häufig hervortritt.