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durch den thatsächlichen Gebrauch der obrigkeitlichen Gewalt
ohne das Mittel der Einwirkung auf den Willen der Einzelnen
ein dem Gesetz entsprechender Zustand hergestellt wird. Aeusser-
lich unterscheidet sich ein so geschaffenes Verhältniss nicht von
einem gleichartigen, das aus dem freien Willen der Betheiligten.
hervorgegangen ist. Die eingetretene Wirkung ist überall die-
selbe: es sind die von der Rechtsordnung gewollten Zustände
vorhanden, und wir sind daher zu dem Urtheil berechtigt, dass
die Rechtsordnung gelte. Da aber diese thatsächliche Herrschaft
des Rechts doch in den meisten Fällen auf dem Willen der die
Rechtssätze Anwendenden beruht und da weiter das objektive
Recht meistens seinen Inhalt aus dem entnimmt, was nach der
allgemeinen Ueberzeugung den Interessen der Betheiligten am
besten entspricht, so liegt es nahe, diese Ueberzeugung aus der
übereinstimmenden Regelung einer Menge gleichartiger Verhält-
nisse abzuleiten. Unter der weiteren Voraussetzung, dass die aus
dieser Uebung zu erschliessende Norm dieselbe verbindliche Kraft
hat, wie ein Gesetz, erhalten wir so den Begriff des Gewohnheits-
rechts, und es kommt dann nur noch darauf an, die Geltung
des Rechtssatzes in diesem Sinne näher festzustellen, um die Er-
fordernisse des Gewohnheitsrechts zu kennen.
Die Geltung als thatsächlicher Zustand kann fortdauern,
auch wenn die Ursachen, die ihn zuerst hervorriefen, zu wirken
aufgehört haben, insbesondere wenn der Gesetzgeber, der die
Rechtssätze geschaffen hat, hinweggefallen ist.. Ganz allgemein
geht man sogar noch einen Schritt weiter und nimmt an, dass
es auch so sein müsse, und dass die bisherige Rechtsordnung
nicht nur thatsächlich, sondern auch von Rechtswegen ihre Herr-
schaft behalte. Als Beispiel braucht nur erinnert zu werden an
den Fortbestand des gemeinen Rechts in den 1866 von Preussen
annektirten Provinzen und des französischen Rechts in Eilsass-
Lothringen sowie an die T'hatsache, dass die Reichsgesetze auf
Helgoland erst nach und nach in Kraft gesetzt sind. Und doch