— 201 —
Denken wir uns die Einzelnen als Träger der Uebung, so
würde sich aus dem Gesagten zunächst wieder ergeben, dass Jeder
befugt und auch genöthigt wäre, den Gewohnheitsrechtssatz im
Nothfalle durch Gewalt zur Geltung zu bringen. So liegt die
Sache auch im Völkerrecht. Aber innerhalb des Staates ist ein
Zustand der Selbsthülfe und Eigenmacht, wie er hierdurch ent-
stehen würde, unzulässig, Das Gemeinwesen will nicht nur Dem-
jenigen, welcher zu schwach ist, aus eigenen Kräften sein Recht
zu vertheidigen, mit seinen grösseren Machtmitteln helfen, sondern
es nimmt die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung, soweit sie
durch Anwendung äusserlicher Gewalt erfolgen muss, als seine
alleinige Aufgabe für sich in Anspruch, damit nicht auch bloss
vermeintliche Befugnisse geltend gemacht und durchgesetzt werden.
Dabei stellt die Staatsgewalt sich nach unseren bisherigen Er-
fahrungen regelmässig auf den Standpunkt, dass sie auch den
gewohnheitsmässig geübten Rechtssätzen massgebende Bedeutung
zuschreibt. Da nun in Folge des Dazwischentretens des Staates
nicht mehr wirklich festgestellt werden kann, ob die den Rechts-
satz Anerkennenden die stärkere Partei sind, so muss in besonders
überzeugender Weise dargelegt werden, der Rechtssatz sei so
häufig zur Anwendung gekommen, dass man ihn als allgemein
herrschend ansehen darf. Man könnte die Erklärung der Obrig-
keit, das Gewohnheitsrecht aufrechterhalten zu wollen, oder den
an die Richter gerichteten Befehl, das Gewohnheitsrecht ebenso
gut wie die Gesetze ihren Urtheilen zu Grunde zu legen, als
einen Rechtssatz höherer Ordnung auffassen, der mit den Vor-
schriften der Verfassung über die gesetzgebende Gewalt auf einer
Stufe stünde. Aber damit würde wenig gewonnen werden. Denn
die Verpflichtung zum Gehorsam gegen ihn oder die Befugniss
ihn anzuwenden, liesse sich nur auf dieselben Gründe stützen,
wie diejenige zur Befolgung der einzelnen gewohnheitsrechtlichen
Norm. Daher ist es zwecklos, die Geltung des Gewohnbheits-
rechts auf die Genehmigung des Staates in der von RÜMELIN