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Noch nach einer anderen Richtung hin wird der Unterschied
zwischen der Auffassung von RÜMELIN und der hier vertheidigten
von Wichtigkeit. RüÜMELIN ist auf die derogatorische Uebung
nur bei der Frage eingegangen, ob und wie ein Verbot des Ge-
wohnheitsrechts durch den Gesetzgeber ausser Kraft treten könne.
Es ist ja aber allgemein anerkannt, dass, solange ein derartiges
Verbot nicht besteht, alle Rechtssätze durch eine entgegengesetzte
(Gewohnheit beseitigt werden. Dies wäre vom gegnerischen Stand-
punkte aus nur so denkbar, dass die Gesetze ihren inneren ethi-
schen Werth verlieren, und dass auch die ihnen zur Seite stehende
Autorität des Staates ihre Verbindlichkeit nicht mehr zu be-
gründen vermag. Das dürfte aber unvereinbar sein mit dem
Versuche, ihre verpflichtende Kraft, solange sie in Geltung sind,
in allererster Linie auf jene Autorität zu gründen. Denn die
(Geltung des Gesetzes muss auf das Ansehen seines Urhebers
zurückgeführt werden, da sie ohne Rücksicht auf den eigenen
ethischen Werth seines Inhaltes eintritt. Ebenso muss, wie wir im
ersten Abschnitt gesehen haben, die Billigung der Gewohnheit durch
die Obrigkeit mehr auf die Bedeutung der Uebung im Allgemeinen
als auf die innere Berechtigung des geübten Rechtssatzes gestützt
werden, wenn der Staat und nicht der Richter in dieser Frage
die ausschlaggebende Entscheidung haben und die erstrebte Sicher-
heit des Verkehrs erreicht werden soll. Bei einem derogatori-
schen Gewohnheitsrechte wirken nun das Gewicht der Autorität
des Gemeinwesens und die Macht der Uebung in entgegengesetztem
Sinne. Wird jenes also zugelassen, so ist damit anerkannt, dass
bei einem Widerstreite der Werth der Uebung grösser sei als
derjenige des staatlichen Ansehens. Dann ist aber nicht ein-
zusehen, wesshalb wir nicht auch in dem anderen Falle, dass
beide auf dasselbe Ziel, die Verbindlichkeit der Gewohnheit, hin-
wirken, ersterer eine grössere Bedeutung beilegen dürften als dem
letzteren.
Bestimmt man dagegen die Stellung des Staates dahin, dass