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den Vorschriften dieser Gebiete die Möglichkeit, wider den Willen
des Gesetzgebers zu sicherer thatsächlicher Herrschaft zu gelangen,
das gesetzliche Verbot vermag hier also die Entstehung von Ge-
wohnheitsrecht zu hindern. Aber freilich ist dies nur richtig bei
der heutigen Auffassung von der Stellung des Richteramtes.
Hat der Richter nach dem geltenden Staatsrechte nicht nur das
Recht anzuwenden, sondern auch zu schaffen ?’, oder ist gar die
Staatsgewalt verpflichtet, das überhaupt ohne ihre Mitwirkung
sich bildende Recht zu schützen, so sind die vorstehenden Er-
wägungen nicht mehr zutreffend. Zu solchen Zeiten gibt es
jedoch auch keinen Gesetzgeber im heutigen Sinne, oder es wird
ihm wenigstens nicht einfallen, das Gewohnheitsrecht zu verbieten
oder an besondere Erfordernisse zu binden.
Wenn aber selbst die Staatsgewalt ein Verbot des Gewohn-
heitsrechts ausgesprochen hat, so ist sie doch nicht immer in der
Lage, es auf die Dauer aufrecht zu erhalten, weil unter Umständen
das Mittel, dessen sie sich hierzu bedienen muss, eben die Wirk-
samkeit der Gerichte, versagt, indem die Richter der an ihren
Willen gestellten Anforderung nicht genügen. Der Gesetzgeber
besitzt Macht nur durch die Behörden; gehorchen diese selbst.
ihm nicht, so ist sein Gebot einflusslos auf die thatsächliche Ge-
staltung der Dinge. Und der Gehorsam der Beamten hört auf,
wenn hierfür entsprechende Beweggründe vorliegen. Das ist
gewiss rechtswidrig, aber doch unausbleiblich, wenn die Gesetz-
gebung in erheblichem Masse hinter den Bedürfnissen des Lebens
zurückbleibt. Drängt so die Noth dazu, auf das Gewohnheits-
recht als Rechtsquelle zurückzugreifen, so wird schon eine Theorie
aufgestellt werden und allgemeinen Anklang finden, die die Hand-
lungsweise der Richter vor ihrem eigenen Gewissen rechtfertigt.
Eine Vorschrift dieser Art enthält bekanntlich das Straf-
37 Gemeint ist hier natürlich die Befugniss zur Erzeugung wirklicher
(endgültiger), nicht bloss vorläufiger Rechtsätze. (Ueber diese Unterschei-
dung vgl. den nächsten Abschnitt.)