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sein. Denn keiner der angeführten Aussprüche enthält eine aus-
führliche und abschliessende Darlegung aller in Betracht kommen-
den Voraussetzungen, sondern es wird nur, wie es auch der
Charakter der in den Digesten und im Codex exzerpirten Werke
und Konstitutionen mit sich bringt, bald der eine, bald der andere
Punkt hervorgehoben. Von der opinio necessitatis, die nach der
jetzt allgemein herrschenden und wohlbegründeten Ansicht nicht
fehlen darf, ist z. B. in ihnen nie die Rede. Die Lehre von den
Erfordernissen des Gewohnheitsrechts lässt sich daher keinenfalls
ausschliesslich auf die Quellen unseres positiven Rechts begründen.
Haben wir also von allgemeinen Betrachtungen über das
Wesen und die Geltung des Gewohnheitsrechts auszugehen °®, so
ist zunächst selbstverständlich, dass es in einer Mehrheit von
Thatsachen zu Tage getreten sein muss, und dass deren Zahl
sich nicht in einer für alle Fälle gültigen Weise feststellen lässt.
Dass zwei Uebungshandlungen genügen könnten, wie einige Schrift-
steller des vorigen Jahrhunderts behauptet haben, halte ich für
ausgeschlossen, da man den Rechtssatz dann noch nicht als all-
gemein herrschend, als Regel des Verkehrs ansehen dürfte. Um-
gekehrt darf aber auch nicht verlangt werden, dass er bisher
ausnahmslos befolgt worden sei?”. Die Fälle, in denen er zur
Anwendung gekommen ist, müssen nur die weit überwiegende
Mehrheit bilden, und diejenigen, in denen ihm zuwider gehandelt
ist, vereinzelte Ausnahmen darstellen, sodass nicht, wie etwa bei
einer Abstimmung, die einfache Zahl entscheidet. Dabei ist auch
die räumliche Begrenzung der Herrschaft der Rechtsnormen zu
beachten. Wird die Geltung eines Gewohnheitsrechtssatzes für
#6 Dass die so gefundenen Ergebnisse auch in der Rechtsprechung ver-
wendet werden dürfen, erhellt daraus, dass, wie im letzten Abschnitte näher
nachgewiesen werden wird, der Richter die Befugniss hat, da wo ihn das
positive Recht im Stiche lässt, den seiner Entscheidung zu Grunde zu legen-
den Rechtsgedanken selbständig aufzusuchen. Mit etwa bestehenden positiven
Vorschriften darf er sich freilich nicht in Widerspruch setzen.
8" So z. B. GLück unter Berufung auf fr. 34 D. de regulis iuris.