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Behauptet wird ihr Vorkommen von einigen Seiten, es ist aber
nicht unbestritten. Auf diese Zwiespaltigkeit der Ansichten darf
Gewicht gelegt werden. Eine sich für die Zulässigkeit aus-
sprechende einstimmige Meinung in Wissenschaft und Recht-
sprechung würde zwar nicht als Rechtssatz bindende Bedeutung
haben, jedoch ein unzweifelhaftes Zeugniss für eine thatsächliche
Erscheinung bilden, die durch Ableugnung nicht aus der Welt
geschafft würde. Da es aber eben hieran fehlt, sind wir befugt,
die Frage in Gemässheit der von uns für richtig gehaltenen An-
sicht von dem Wesen und dem Grunde der verpflichtenden Kraft
des Gewohnheitsrechts zu beantworten. Wir haben nun die sitt-
liche Pflicht, sich der bestehenden Gewohnheit zu fügen, auf die
Bedürfnisse des Zusammenlebens der Menschen und auf den
Zweck, für gleiche Verhältnisse eine gleiche Ordnung herzustellen
und dem Verkehre Sicherheit zu verleihen, zurückgeführt. Von
einem allgemein herrschenden Rechtsgedanken ist ja aber hier
gar nicht die Rede, also auch nicht von einer Verbindlichkeit,
sich ihm zu unterwerfen. Und die Rücksicht auf den Frieden
unter den Rechtsgenossen erfordert schwerlich die Annahme
eines besonderen Rechtssatzes nur wegen der T'hatsache des
langen Bestandes eines Verhältnisses, wo dessen Ordnung nach
einer allgemeinen Vorschrift sehr wohl möglich, also auch zunächst
geboten ist und sich nicht einmal eine rechtliche Vermuthung für
die gesetzmässige Entstehung des bisherigen Zustandes begründen
lässt. Auch hier kämen wir ferner zu einer ungerechtfertigten
Ausdehnung der Befugniss zur willkürlichen Regelung der Be-
ziehungen zweier oder doch ganz weniger Menschen, auch hier
werden also die schon oben gegen sie geltend gemachten Be-
denken von Bedeutung. Anders liegt dagegen die Sache, wenn
+4 Winnoscheip I $ 136 Anm. 3, REGELSBERGER an den eben ange-
führten Stellen. Die in $ 30 Anm. 9 angeführten Belege aus der Recht-
sprechung gehören nur zum Theil hierher, zum Theil schon zum fol-
genden.
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