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sittlichen Anschauungen abweichen. Ebensowenig vermag es
Rechtssätze zu schaffen, die etwas geradezu Vernunftwidriges
gebieten oder erzwingbar machen. Die Schwierigkeit liegt nur
darin, die hierher gehörigen Fälle von denen blosser Unzweck-
mässigkeit richtig abzugrenzen. Wenn uns z. B. LEYsEr°? er-
zählt, in Erfurt habe das Herkommen geherrscht, dass Niemand
Rathsherr werden durfte, der Peter hiess, so kann allerdings
nicht zweifelhaft sein, dass dies keine „gute, erbare Gewohnheit“
und desshalb verwerflich und unverbindlich war. Dagegen halte
ich das von BÖHLAU®* angeführte Beispiel eines unvernünftigen
Gewohnheitsrechts nicht für zutreffend. In dem Dorfe Wangern
auf der Insel Poel hat am Anfange unseres Jahrhunderts die
Uebung geherrscht, dass der Nachfolger im Gehöfte die Buch-
schulden (d. h. die beim Kaufmann gemachten persönlichen, nicht
auf das Grundstück eingetragenen) seines Vorgängers, wenn dieser
auch nur Interimswirth war, zu bezahlen hatte. Ungerechtfertigt
und desshalb nicht zu billigen war dieser Gebrauch gewiss, aber
er war nicht in höherem Grade logisch unmöglich als der Satz
„Kauf bricht nicht Miethe“ und: nicht so unsinnig, dass jeder
verständige Mensch, wie bei dem ersten Beispiele sagen müsste,
er dürfe nicht befolgt werden. Um einem Grundsatze die Eigen-
schaft als Rechtssatz absprechen zu können, muss ein ganz be-
sonders grober Verstoss gegen das, was die Vernunft fordert,
vorliegen, aber ein solcher genügt auch, ohne dass man, wie bei
dem Widerspruch mit dem Sittengesetz, verlangen dürfte, dass
eine Handlung geboten wird, die nach Vernunfterwägungen als
verboten anzusehen ist.
Die Beseitigung einer Gewohnheit als unsittlich oder unver-
nünftig kann aber nicht nach der subjektiven Anschauung des
gerade urtheilenden Richters erfolgen. Massgebend können nur
die Anschauungen der im Staate vereinigten Gesammtheit sein,
#3 Medit. ad Pandectas spec. 9 u. IV.
% Mecklenb. Landrecht I S. 335 Anm. 24.