— 245 —
Staate ertheilte Auftrag gerichtet, da das Gemeinwesen selber,
die Berechtigung seines Bestehens aus der Vernunft ableitet und
dementsprechend sich und seinen Organen die Aufgabe setzt, den
Anforderungen der Vernunft zu genügen.
Demnach könnte für den Gerichtsgebrauch nur in dem Sinne
ein Antheil an der Rechtsbildung in Anspruch genommen werden,
als er neue Rechtsgedanken hervorbringt. Aber hierbei ist der
Richter nicht als solcher thätig, sondern als Vertreter der Wissen-
schaft. Das zeigt sich am Deutlichsten daran, dass auch andere
Mitglieder des Juristenstandes an dieser Arbeit theilnehmen
können und auch thatsächlich vielfach in hervorragender Weise
wirksam werden. Indem der Richter sich die ihm von anderer
Seite dargebotenen Rechtsgedanken aneignet, ändert er nichts an
ihren Wesenseigenthümlichkeiten, Genau ebenso liegt die Sache,
wenn er den anzuwendenden Rechtsgedanken selbstschöpferisch
findet; auch hier muss seine wissenschaftliche und seine urtheilende
Thätigkeit begrifflich durchaus geschieden werden. Als Urheber
von Rechtsgedanken sind sowohl Wissenschaft wie Praxis Rechts-
quelle im materiellen Sinne®®, aber verbindliche Kraft kann ihren
Erzeugnissen weder die eine noch die andere verschaffen. Auch
ihre wiederholte Anwendung ändert hieran nichts. Die während
langer Zeit ergehenden übereinstimmenden Entscheidungen der
Gerichte haben also nur die Bedeutung einer nicht gering zu
schätzenden Autorität. Der Richter thut gut, lieber seiner
eigenen Einsicht zu misstrauen, als von ihnen abzuweichen, solange
-er nicht durchaus zwingende Gründe hierfür zu haben überzeugt
ist. Ein solches Verhalten zu beobachten, entspricht der der
Sicherheit des Rechtsverkehrs geschuldeten Rücksicht °®,
5% Hierüber vgl. KokLer in den Jahrb. f. Dogmatik Bd. XXV S. 262f.
5 Vgl. Entscheidungen des Reichsgerichts in Civilsachen Bd. III S. 178.
Weiter geht ein Erkenntniss des Oberappellationsgerichts München (1872) in
den Blättern für Rechtsanwendung Bd. 37 S. 346 ff., indem es den Gerichts-
gebrauch für bindend erklärt, wenn zur Entscheidung einer Frage gar kein
Gesetz vorhanden ist oder die vorhandenen Gesetze unzureichend sind.