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Rechtssatze zuwiderhandelt, nur ihn, sein Ungehorsam bildet,
auch wenn er ein bewusster ist, ohne eine besondere Anordnung
keine strafbare Handlung. Verletzt dagegen der Richter ein
Gesetz, so handelt er dem ihm ertheilten Auftrage entgegen,
und geschieht es absichtlich, so macht er sich einer strafbaren,
Rechtsbeugung schuldig. Anders ausgedrückt, gegenüber einer
Nichtbefolgung der staatlichen Anordnung durch den Einzelnen
findet Zwang nur nach der Richtung hin statt, dass letztere
dennoch verwirklicht wird, gegenüber der Rechtsbeugung jedoch
auch zu dem Zwecke, die Beachtung der an den Beamten ge-
richteten Anweisung zu sichern. Damit steht in Zusammenhang,
dass die Vernachlässigung eines Rechtssatzes im allgemeinen Ver-
kehr, weil die Staatsgewalt hiergegen zu einem guten Theile
machtlos ist, stärkere Wirkungen ausübt, als seine Nichtanwendung
in der Rechtsprechung. Bei ihr ist sehr viel länger die Aussicht
vorhanden, dass der Rechtssatz unter dem Einflusse der Amts-
pflicht des Richters wieder zur Herrschaft gelangt. Daher ist
die Beseitigung eines Rechtssatzes durch den Gerichtsgebrauch
schwieriger als durch derogatorisches Gewohnheitsrecht.
Und dennoch vermag die Rechtsprechung bindende Normen
zu erzeugen. Zwar die von WÄCHTER (im Archiv für civilistische
Praxis Bd. XXIII S.432) und auch vom Reichsgerichte vertheidigte
Meinung, dass sie als echtes Gewohnheitsrecht anzusehen sei,
wenn sie sich als Ausfluss einer Volksüberzeugung darstelle, ist
von unserem Standpunkte aus zurückzuweisen. Es dürfte auch
recht schwierig sein, das Vorhandensein einer selbständigen Rechts-
anschauung unwiderleglich nachzuweisen und in der geistigen
Thätigkeit der Urtheilenden das, was wissenschaftliche Anwendung
des Rechts mit den es beherrschenden Grundsätzen, und das, was
unmittelbare Ableitung aus der Vorstellung der Gerechtigkeit ist,
genau zu‘ sondern. Thatsächlich kommt die Sache meistens
darauf hinaus, dass wenn der spätere Richter die in der bis-
herigen ‚Rechtsprechung zu Tage getretenen Rechtsgedanken für