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bei seiner neuesten Arbeit gesetzt hatte. Er wollte nicht in erster Linie
ein Buch für Studierende und Gelehrte schreiben. „Das vorliegende Werk
ist vielmehr“, so sagt Rıvıer in der Vorrede, „zugleich, ja sogar vorzugs-
weise, für Staatsmänner und Diplomaten, für Mitglieder der Regierungen
und der Volksvertretungskörper, kurz für alle die Personen bestimmt, die
dazu berufen sind, sich mit Staatsgeschäften und insbesondere mit den inter-
nationalen Staatenbeziehungen zu beschäftigen.“ „Mein Zweck ist weniger,
die unzähligen Fragen vorherzusehen, die in der Praxis auftauchen und von
der T'heorie erörtert werden, als vielmehr deren Lösung vermittels der
grundlegenden Rechtsprinzipien zu fördern. Diese Prinzipien habe ich ver-
sucht, in ihrem Wesen, ihrer Verkettung, ihrem Ursprung und ihrer Zweck-
bestimmung klarzustellen. Um eine sichere Erkenntnis sowohl ihrer Ent-
wickelung als ihrer gegenwärtigen Anwendung zu ermöglichen, habe ich eine
Reihe von historischen Thatsachen als Beispiele angeführt und einzelne Aus-
züge aus völkerrechtlichen Aktenstücken sowie aus den Schriften weniger,
guter Schriftsteller gegeben. Auf eine Polemik habe ich nahezu vollständig
verzichtet, mich vielmehr darauf beschränkt, meine Ueberzeugungen und die
dafür massgebenden Gründe darzulegen und entgegengesetzte Ansichten nur
ausnahmsweise anzuführen.“
Das in diesen Worten kurz dargelegte Programm hat nun Rivier
meines Erachtens in meisterhafter Weise durchgeführt. Die einzelnen völker-
rechtlichen Normen und Institute sind mit grösster Klarheit und Schärfe
präzisiert, die als Belege und Illustrationen dienenden geschichtlichen Bei-
spiele, Zitate aus völkerrechtlichen Akten und Schriftstellern zeugen von
eminenter Belesenheit ‚und feinstem Verständnis, die Urteile sind überall
durch strengste Gerechtigkeit, Unparteilichkeit und Mässigung ausgezeichnet.
Das System ist dasselbe, welches der Verf. bereits seinem Lehrbuch zugrunde
gelegt hat; wenn dasselbe, wie ich früher schon dargelegt und wie RıvıEr
nun selbst anerkennt, wissenschaftlich nicht einwandfrei ist, so ist dasselbe
doch zweifellos übersichtlich und praktisch brauchbar. Die Darstellung ist
von hervorragender Klarheit und Eleganz, die ganze Ausdrucksweise durch
eine gewisse von aller Schwerfälligkeit und Pedanterie freie Vornehmheit
"ausgezeichnet, wie sie den besten Mustern des diplomatischen Stils eigen ist.
und gerade in den Kreisen besonders geschätzt wird, an welche Rıvıer sich
in erster Linie wendet. Ueberhaupt scheint mir das Werk von RiviEr dazu
geeignet und bestimmt, in den Kreisen der praktischen Diplomatie eine
ähnliche Stellung zu erringen, wie sie das’ Buch seines berühmten Lands-
mannes VATTeL — auch Rivier ist, wie VATTEL, von Geburt Schweizer —
während mehr als eines Jahrhunderts eingenommen hat. VATTEL's noch ganz
im Banne des Naturrechts befangenes Werk ist heute veraltet und nicht
mehr imstande, der Diplomatie die wissenschaftliche Grundlage zu bieten,
deren sie zu ihrer wichtigen und verantwortungsvollen praktischen Thätigkeit
bedarf. Sie wird in dem durchaus auf der Höhe der heutigen positiven
Archiv für öffentliches Recht. XIII. 4. 39