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„Ueber den Staat gibt es keine höhere, neben ihm keine
gleich hohe menschliche Gemeinschaft; er ist die vollkommene
Einigung.
Der Wille, welcher den Staat beherrscht, muss der höchste,
d. h. souverän sein.
Er muss ein einheitlicher sein, weil zwei höchste Willen
über denselben Gegenstand sich verneinen, mithin begrifflich un-
möglich sind.
Das Recht, seinen Willen als den höchsten über den Staat
geltend zu machen, nennt man Staatshoheit (Souveränetät).
Die Staatshoheit ist ihrem inneren Wesen nach ein all-
umfassendes Recht: sie ist nicht eine Summe aufzählbarer Hoheits-
rechte, sondern sie ist das Hoheitsrecht am Staate.e Darum ist
das Staatshoheitsrecht und die Staatsgewalt nicht theilbar“®,
Es muss zunächst eingeräumt werden, dass diese Theorie
von SEYDEL streng logisch und folgerichtig ist, dass Jeder, der
die Prämisse zugibt, auch sämmtliche Folgesätze zugeben muss.
Die Prämisse ist jedoch unrichtig; daher können auch die Folge-
sätze nicht richtig sein. SEYDEL beruft sich, um die Richtigkeit
seiner Prämisse zu beweisen, auf die Uebereinstimmung sämmt-
licher Definitionen des Staatsbegrifis. Die Zahl der Schriftsteller,
welche einer Ansicht huldigen, wäre an und für sich noch kein
Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht. Die von SEYDEL er-
wähnte communis opinio, welche früher vielleicht existirte, ist
aber thatsächlich gar nicht mehr vorhanden; sie ist gerade durch
SerpeL’s Abhandlung über den Bundesstaatsbegriff zerstört
worden. Heute erkennen fast sämmtliche Schriftsteller an, dass
es neben dem Einheitsstaat noch andere Staatsformen gibt, in
welchen über dem Einzelstaat eine höhere staatliche Gemeinschaft
steht (zusammengesetzte Staaten, Bundesstaaten), in welchen also
der Einzelstaat nicht die höchste Form menschlicherV ereinigung ist.
5 Seyper, Kommentar S. 2—4,