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durch Reichsgesetz geändert werden ®. Einen Beweis hierfür
liefert Art. 76 Abs. 2 der Reichsverfassung, welcher das Ein-
greifen der Reichsgewalt in das Gebiet der Landesverfassungen
ausdrücklich an vier verschiedene Voraussetzungen knüpft:
1. muss ein Verfassungsstreit in einem Gliedstaat bestehen;
2. die Landesverfassung darf keine Behörde zur Entscheidung
von Verfassungsstreitigkeiten bestimmt haben;
3. einer der streitenden Theile muss die Hülfe des Bundes-
raths anrufen;
4. ein Versuch des Bundesraths, die Sache gütlich beizulegen,
muss gescheitert sein.
Könnte das Reich nach seinem Ermessen die Landes-
verfassungen beliebig ändern oder aufheben, so hätten die ein-
schränkenden Vorschriften des Art. 76 Abs. 2 der Reichsverfassung
keinen Sinn, In gleicher Weise bestimmt Ziff. II des Versailler
Schlussprotokolls vom 23. Nov. 1870, dass die Bundeslegislative
sich nicht auf die Frage erstrecken solle, unter welchen Voraus-
setzungen Jemand zur Ausübung politischer Rechte in einem
Staate befugt sein solle.
Das Oberhaupt des Reiches kann nicht durch Landesgesetz
geändert werden. Die Rechte desselben beruhen auf der Reichs-
verfassung, welche durch Landesgesetz weder ganz noch theilweise
aufgehoben werden kann. Das Staatsoberhaupt in den einzelnen
Bundesstaaten kann ebenfalls nicht durch Reichsgesetz geändert
werden. Die Rechte des Staatsoberhaupts bilden in jedem
Bundesstaate einen Theil der Landesverfassung; für diese Rechte
gilt dassselbe, was für die Landesverfassung gilt.
Eine scheinbare Ausnahme von den hier entwickelten Regeln,
dass Gebiet, Verfassung und Oberhaupt der Einzelstaaten nicht
durch Reichsgesetz geändert werden dürfen, bildet Elsass-Lothringen.
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8 Verfassung bedeutet hier natürlich nicht Verfassungsurkunde,
sondern Verfassungsrecht (droit constitutionnel im Gegensatz zum droit
administratif, vgl. Ducrocg a. a. 0. Bd. I S. 2—3).